Prinz Rupert und seine Gefährten waren endlich heimgekehrt.
Rupert starrte wie betäubt umher, während er durch den schimmernden Silbertunnel nach unten schwebte, und geriet ein wenig ins Stolpern, weil er viel zu schnell Boden unter den Füßen spürte. Er war sicher, dass er nicht mehr als ein paar Sekunden in dem Tunnel verbracht hatte, aber in diesem kurzen Moment hatte sich die Welt weiterbewegt, und alles war verändert. Der bekannte Gestank nach Moder und Verwesung stieg ihm in die Nase; lähmendes Entsetzen legte sich auf ihn und hüllte ihn ein wie ein vertrauter alter Mantel. Er umkrampfte die Zügel des Einhorns und starrte entsetzt umher, fest davon überzeugt, dass der Große Zauberer gepfuscht und sie wieder im Dunkelwald abgesetzt hatte, dem sie soeben erst entronnen waren. Aber dann landete der letzte Mann auf dem holprigen Pfad, der Silbertunnel schnurrte zu einem Nichts zusammen, und mit ihm verschwand das gleißende Licht. Hilflos in der unerbittlichen Schwärze, wandte Rupert die Blicke dem einzigen Licht zu, das er entdeckte – dem schwachen, wabernden Schein, der von der Burg ausging.
Einen Moment lang schnürte ihm der Schmerz die Luft ab, und er schüttelte in stummer Abwehr den Kopf. Er hatte den Schwarzen Turm rechtzeitig erreicht; es konnte einfach nicht sein, dass die lange Nacht so weit in das Waldkönigreich vorgedrungen war. Aber da stand die Burg und schimmerte weiß unter einer dicken Decke aus Schnee, Eis und Raureif.
Lange spitze Eiszapfen hingen von jedem Türmchen und jedem Fenster, und der Burggraben hatte sich in eine Spiegelfläche verwandelt. Fackeln brannten in regelmäßigen Abständen auf den Zinnen, aber ihr flackerndes graugelbes Licht konnte der näher rückenden Nacht kaum Einhalt gebieten.
Rupert begann heftig zu zittern, und das hatte wenig mit der bitteren Kälte zu tun, die sich in seinen Knochen festbiss. Es war eine Sache, sich durch den Dunkelwald zu kämpfen, um ein Abenteuer zu bestehen oder den kürzesten Weg zum Großen Zauberer zu wählen. Aber die Finsternis hatte kein Recht, seine Heimat zu belagern. Der Dunkelwald hatte sich stets irgendwo in bequemer Ferne befunden. Bis jetzt hatte Rupert nicht ernsthaft daran geglaubt, dass die Burg, die den Waldkönigen seit dreizehn Generationen als Residenz diente, der Finsternis zum Opfer fallen könnte. Es war unmöglich; es konnte einfach nicht sein… Er kämpfte gegen das aufsteigende Entsetzen an und bekam sich allmählich wieder in die Gewalt. Seine Gedanken wanderten fahrig hierhin und dorthin, auf der Suche nach einer Antwort, irgendeiner Antwort auf die Frage, was geschehen war. Wie war es möglich, dass sich der Dunkelwald so rasch ausgebreitet hatte? Und dann, nach langer Zeit, schaute Rupert auf.
Unmittelbar über ihm, inmitten der ewig währenden sternlosen Nacht schwebend, hing der Vollmond. Seine Farbe erinnerte an schimmligen Käse oder aussätziges Fleisch; die einzige Farbe, die das Auge in der Schwärze der Nacht wahrnahm. Der Blaue Mond war aufgegangen.
Im Dunkelwald f ließt die Zeit anders.
Rupert wandte sich um und starrte den Großen Zauberer an. »Was haben Sie getan?«, fragte der Prinz, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Was zum Henker haben Sie getan?«
Der Zauberer sah ihn an und schluckte trocken. Seine Miene war starr vor Entsetzen. »Keine Ahnung«, sagte er schließlich. »Da muss etwas mit meinem Teleport-Bann schief gelaufen sein. Der Ort stimmt, aber die Zeit nicht. Ich verstehe das nicht…«
»Darüber können wir später diskutieren, Sire.« Die Stimme des Champions klang ruhig und kühl, aber seine Hand umklammerte die doppelschneidige Streitaxt so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ringsum wimmelt es von Dämonen. Unsere Ankunft scheint sie ebenso erschreckt zu haben wie uns selbst, aber das wird nicht lange so bleiben.
Wir täten gut daran, so rasch wie möglich von hier zu verschwinden.«
Rupert warf einen kurzen Blick auf die Soldaten, die mit gezückten Schwertern und erhobenen Laternen einen engen Verteidigungsring bildeten. Er nickte. Die Gelassenheit und Kampfbereitschaft, die sie ausstrahlten, gaben ihm sein Gleichgewicht zurück, und er verbannte gewaltsam die Reste von Furcht und Panik, die immer noch tief in seinem Innern rumorten.
»Sie haben Recht, Sir Champion. Erteilen Sie den Marschbefehl! Sie und ich übernehmen die Spitze, und der Zauberer gibt uns mit seiner Magie Rückendeckung. Das können Sie doch wenigstens, Großer Zauberer, oder?«
Der Angesprochene zuckte zusammen und nickte steif.
Rupert zog sein Schwert, wog es in der Hand und wandte sich an seine Männer.
»Bleibt zusammen, seid wachsam und haltet nicht mehr an, sobald wir losmarschiert sind! Es sind höchstens fünfhundert Meter bis zur Burg, und nach allem, was wir durchgemacht haben, können uns ein paar lumpige Dämonen nicht an der Heimkehr hindern. Es geht los, Leute! Wer das Burgtor als Letzter erreicht, gibt eine Runde aus!«
Es war keine großartige Anfeuerungsrede, doch die Männer antworteten mit rauen Hurrarufen. Rupert war ungemein stolz auf seine tapfere Truppe. Er grinste breit und wandte sich rasch ab, um die Tränen zu verbergen, die ihm in den Augen brannten. Er umklammerte die Zügel des Einhorns und marschierte los, zügig, aber ohne Hast. Wenn die Dämonen den Eindruck gewannen, dass der Trupp vor ihnen floh, würden sie angreifen. Andererseits ließen sie sich durch gespieltes Selbstvertrauen vielleicht lange genug täuschen, bis die Heimkehrer die Burg erreicht hatten. In diesem Stadium kam es auf jede Kleinigkeit an. Rupert beobachtete unauffällig seine Umgebung. Der Champion, der neben ihm einherschritt, schwang die schwere Streitaxt so locker, als hätte sie überhaupt kein Gewicht. Die Gardesoldaten und der Zauberer folgten ihnen dicht gestaffelt und spähten angespannt in das Dunkel. Der Zauberer machte mehr Lärm als alle Kämpfer zusammen. Rupert konnte die Dämonen nicht hören, die sie von allen Seiten umzingelten, aber hin und wieder glommen rote Augenpaare wie glühende Kohlen auf, und missgestaltete Wesen huschten vor und hinter ihnen von Schatten zu Schatten.
Rupert runzelte die Stirn und zog den Umhang enger um die Schultern. Die Kälte setzte sich in seinen Knochen fest, bis er am ganzen Körper zitterte. Es war lange her, seit er etwas anderes als Schnee- und Graupelschauer und den Eishauch des frühen Winters gespürt hatte. Allmählich kam ihm das Gefühl für Wärme abhanden. Er nahm im Augenwinkel eine plötzliche Bewegung wahr und starrte hilflos in die Schwärze. Die Burg kam immer näher, doch ihr Lichtschein reichte nicht weit in den Dunkelwald. Rupert lächelte grimmig. Er musste die Dämonen gar nicht sehen, um zu wissen, dass sie sich ganz in der Nähe befanden, und es war ihm verdammt gleichgültig, wie viele es waren. Falls es zu einem Kampf käme, würden vermutlich weder er noch seine Begleiter die Burg lebend erreichen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, unbehelligt so nahe an das Burgtor heranzukommen, dass sie die letzten Meter im Laufschritt zurücklegen konnten. Keine große Hoffnung, wie er sich eingestehen musste.
Rupert umkrampfte den Schwertgriff, bis die Finger schmerzten, aber das Zittern in den Händen ließ nicht nach.
Der Dunkelwald mit all seinen Schrecken drückte ihn erbarmungslos nieder, und das Gewicht war keine Spur leichter geworden. Immer, wenn ihn die Pflicht zwang, in die Schwärze zurückzukehren, hoffte er wider alle Vernunft, dass es diesmal besser würde, aber jedes Mal wurde es noch schlimmer. Angst, Panik und eine alles betäubende Verzweiflung sickerten wie Eiswasser in seine Seele, bis er sich zu Boden werfen, ganz klein zusammenrollen und nur noch laut schreien wollte. Aber das durfte er nicht. Das wollte er nicht.
Er hatte seine Männer nicht bis hierher gebracht, um so kurz vor der Heimkehr aufzugeben. Rupert starrte die Burg an, die mit jedem Schritt näher rückte. Fast erreicht. Fast daheim. So verdammt nahe…
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