König Johann lebte da viel bescheidener. Keines der Zimmer war größer als fünf Meter im Quadrat, und die Einrichtung wirkte eher behaglich als elegant. Julias Blicke schweiften anerkennend durch den Raum, der Wohn- und Schlafzimmer zugleich war, und sie lächelte nachsichtig. Hier herrschte die gemütliche, etwas chaotische Enge, die so typisch für allein stehende Männer war. Bücher säumten die Wände vom Boden bis zur Decke und stapelten sich auf Tischen und Stühlen, wo ihnen benutztes Geschirr und Staatspapiere den Platz streitig machten. Abgestoßene Statuetten und verblichene Miniaturen füllten jeden freien Winkel. Die meisten Möbel waren abgewetzt und schäbig und hatten das Aussehen von Dingen, die man einfach nur deshalb über ihren Nutzen hinaus behielt, weil sie alt und vertraut waren.
Selbst die vielen Teppiche, die den Boden bedeckten, wiesen durchgescheuerte Stellen auf. Und dann stürzte ein Holzscheit polternd in die Glut, und Johann rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her.
»Völlig ungewohnt, so früh im Jahr in der Winterwohnung zu hausen«, murrte er. »Merkwürdiges Gefühl. Eben erst ist der Herbst angebrochen, aber der Schnee liegt bereits knöcheltief, und auf dem Burggraben hat sich eine Eisdecke gebildet. Und noch ehe die Bäume richtig kahl sind, schmerzen meine alten Knochen von der Kälte, wenn ich nicht Tag und Nacht kräftig einheize. Außerdem haben die verdammten Diener meine Möbel völlig falsch aufgestellt. Sicher mit Absicht, weil ich das eine oder andere Mal etwas laut geworden bin.«
»Wir mussten den Umzug in diesem Jahr früher als sonst durchführen«, erklärte Harald. »Du solltest ein wenig Nachsicht mit deinem Personal üben.«
»Will ich aber nicht!«, fauchte Johann. »Schließlich bin ich der König!«
Harald und Julia lachten, und mit etwas Verzögerung stimmte Johann ein.
»Du hast Recht; ich hätte nicht so herumschreien dürfen.
Aber wenn du mal so alt bist wie ich, wirst du merken, dass die kleinen Dinge im Leben immer wichtiger werden. In meinen Räumen hat alles seine feste Ordnung und seinen bestimmten Platz. Ja, lächeln Sie ruhig, Julia, ich weiß genau, was Sie denken! Mag sein, dass es für Sie eher nach Chaos aussieht, aber es ist meine Unordnung, in der ich mich genau auskenne! Wenn ich nachts aufwache, muss ich nur die Hand ausstrecken, um die Kerze an ihrem gewohnten Fleck zu finden. Das ist wichtig. Ich brauche sie nicht nur gegen das Dunkel, sondern auch um das verdammte Feuer wieder anzufachen, wenn es ausgehen will; andernfalls verbringe ich die halbe Nacht zähneklappernd unter meinen Decken. Ich hasse dieses Feuer. Es lauert, während ich einzuschlafen versuche, lässt mich zusammenzucken, wenn es unvermutet knistert und kracht, und starrt mich die ganze Zeit über an wie ein böses rotes Riesenauge.«
Er unterbrach sich, als sich die Tür plötzlich öffnete und Lord Vivian ruhig den Raum betrat, vorwärts geschoben von der Klinge eines Leibwächters. Auf Befehl des Postens blieb er stehen, ein gutes Stück vom König entfernt, in lässiger Haltung, ohne die Anwesenden zu beachten. Man hatte ihm nicht die Hände gefesselt, aber seine Schwertscheide war leer. König Johann nickte dem Posten kurz zu. Der Mann verbeugte sich steif und ging. Lord Vivian schaute den König an.
»Haben Sie so viel Vertrauen in mich, dass Sie mich ohne Bewacher in Ihrer Gegenwart dulden?«, fragte er.
»Natürlich«, entgegnete Harald lässig. »Sie sind doch unbewaffnet.«
Vivian bedachte ihn mit einem kalten Lächeln.
»Ich habe Sie kommen lassen, weil ich mit Ihnen zu reden habe«, sagte der König und sah Harald mit einem warnenden Stirnrunzeln an. »Die Landgrafen sind tot, und Darius bleibt verschwunden. Damit rücken Sie gewissermaßen zum Anführer der Rebellen auf. Ich gehe davon aus, dass die Verschwörer eher auf Sie als auf mich hören werden. Deshalb ist das, was ich Ihnen jetzt mitteilen werde, auch für ihre Ohren bestimmt. Ist das klar?«
»Natürlich«, sagte Lord Vivian. Seine stahlblauen Augen musterten den König unverhohlen. »Außerdem befinde ich mich kaum in einer Lage, in der ich Widerspruch äußern könnte. Sie haben mein Leben in der Hand.«
»Ich habe die Absicht, Sie und Ihre Mitverschwörer ins Exil zu schicken. Von einer Hinrichtung war nie die Rede.«
»Das Exil ist gleichbedeutend mit dem Tod. Nach altem Brauch erhalten die Verbannten keine Waffen, und niemand darf ihnen Zuflucht gewähren, bis sie die Landesgrenze erreicht haben. Sobald meine Freunde und ich die Mauern dieser Burg hinter uns lassen, sind wir eine leichte Beute für die umherstreifenden Dämonen.«
»Sie könnten die Barone um Schutz bitten«, sagte Harald.
»Kaum«, entgegnete Vivian. »Die Barone können ihre eigenen Untertanen nicht mehr ernähren, geschweige denn dreihundert zusätzliche Leute. Und ohne bewaffnete Eskorte erreicht vermutlich keiner von uns lebend die Grenze. Ich habe Spähtrupps von einem Ende des Königreichs zum anderen geführt; die Dämonen sind überall. Schicken Sie uns unbewaffnet vor die Tore der Burg – und Sie sprechen unser Todesurteil!«
»Es gibt vielleicht eine Alternative zum Exil«, sagte der König langsam.
Lord Vivian lächelte kühl. »Das dachte ich mir fast.«
»Am frühen Abend«, fuhr der König fort, »gewährte ich einer Abordnung von Grenzbauern eine Audienz. Sie führen einen vergeblichen Kampf gegen die Dämonenhorden, die ihre Höfe überfallen. Sie kamen mit der Bitte um Hilfe. Und ich konnte nichts für sie tun. Aber nun sieht es so aus, als gäbe es doch eine Möglichkeit, ihnen beizustehen.
Begleiten Sie sie, Lord Vivian, Sie und Ihre Rebellen. Geleiten Sie die Abordnung zurück zu ihren Höfen, schützen Sie die Leute gegen die Dämonen, und bringen Sie ihnen bei, sich selbst zu verteidigen. Ich stelle Ihnen Waffen, Pferde und die Vorräte zur Verfügung, die wir entbehren können. Es ist ein Risiko. Wenn die Dämonen Sie verschonen, erliegen Sie vielleicht der Pest, die dort draußen wütet. Aber ich biete allen, die mich in dieser Sache unterstützen, eine volle Begnadigung an, und wenn die Finsternis endgültig besiegt ist, können die Überlebenden ohne jeden Eintrag in ihrem Schuldregister in die Residenz zurückkehren.«
»Sie haben Recht«, sagte Vivian. »Es ist ein Risiko. Aber ich nehme Ihr Angebot für mich und meine Mitverschwörer an.«
Der König nickte steif. »Ich werde mein Versprechen halten. Allerdings kann es sein, dass keiner von euch mehr in den Genuss der Amnestie kommt.«
»Es ist ein großzügiges Angebot, Sire. Mehr habe ich nie verlangt.«
Lord Vivian stand gerade und aufrecht vor dem König, mit hoch erhobenem Kopf, und zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, strahlte er so etwas wie Stolz und Würde aus.
Julia sah ihn forschend an, gegen ihren Willen beeindruckt von seiner Haltung. Offenbar ließ sich aus der Tatsache, dass jemand ein Verräter war, nicht zwingend folgern, dass er auch ein Schurke oder Feigling war. Harald nahm wortlos einen Schluck von seinem Wein. König Johann starrte eine Weile ins Feuer, und als er wieder sprach, klang seine Stimme fest und ruhig.
»Mein Seneschall wird Sie zu den Bauern bringen. Ihr Anführer ist ein Mann namens Madoc Thorne. Gehorchen Sie seinen Befehlen, als würde ich sie erteilen. Und unterstützen Sie die Leute nach besten Kräften, Lord Vivian! Sie hielten mir selbst dann die Treue, als ich sie im Stich ließ.«
»Wir werden ihr Leben mit dem unseren verteidigen, Sire.
Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
König Johann schaute vom Feuer auf und studierte ihn lange. »Warum haben Sie mich verraten, Vivian?«
Vivian lächelte. »Ehrgeiz, Sire. Ich wollte unbedingt das Oberkommando über die Truppen.«
»Der einzige Grund?«
»Ja, Sire«, entgegnete Lord Vivian ruhig. »Der einzige erwähnenswerte Grund.«
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