»Hat er nicht«, sagte Julia.
König Johann und Harald wechselten einen Blick, und eine Zeit lang war es still im Audienzsaal.
»Kommt einmal mit, ihr beiden«, sagte König Johann und erhob sich entschlossen. »Ich möchte euch etwas zeigen.«
Er stieg vorsichtig die Stufen des Podests herunter, winkte aber unwirsch ab, als Harald ihn stützen wollte. Julia und Harald folgten ihm etwas verwundert quer durch den Thronsaal. Neben der Tür, die zu seinen Privatgemächern führte, hing ein riesiger, ausgeblichener Gobelin. König Johann zog an einer verborgenen Schnur, und der Wandbehang bewegte sich ruckelnd zur Seite. Dahinter kam eine Nische zum Vorschein, in der eine schlichte, etwa zwei Meter hohe und breite Glasvitrine stand. Jenseits der Scheiben, die von Staub und Fliegendreck ganz matt wirkten, standen zwei lebensgroße Holzpuppen in einer sehr alten, reich bestickten Hochzeitstracht.
»Prachtvoll, nicht wahr, meine Kinder?«, fragte König Johann. »Seit mehr als neunhundert Jahren ist es in unserem Herrschergeschlecht Tradition, dass der jeweils erstgeborene Sohn und seine Braut diese Ausstattung zur Hochzeit tragen.
Deine Mutter und ich wurden in diesen Gewändern getraut, Harald. Sie müssen nicht so misstrauisch dreinschauen, Julia!
Die Sachen sind weit bequemer, als sie aussehen.«
Julia musterte argwöhnisch die beiden Gewänder. Der Anzug des Bräutigams war eine düstere Angelegenheit, ganz in Schwarz und Grau, aufgehellt nur von ein paar Silberknöpfen.
Die Braut dagegen trug ein Geriesel aus Seide und Spitze in reinstem Weiß. Julia warf Harald einen Blick zu und schüttelte ernst den Kopf.
»Ich habe da so meine Zweifel, Harald. Weiß steht dir einfach nicht.«
»Das ist Ihr Gewand!«, fauchte der König mit mühsamer Beherrschung.
»Das kann ich nicht tragen«, stellte Julia fest. »Wo soll ich mein Schwert befestigen? Außerdem sehe ich nicht ein, warum es immer Weiß sein muss.«
»Weiß steht für die Reinheit und Unberührtheit der Braut«, erklärte König Johann kühl.
»Ach ja?« Julia studierte das Kleid nachdenklich. »Haben Sie es auch in anderen Farben?«
Harald bekam einen Lachanfall, den er wenig überzeugend durch ein Hüsteln zu verbergen versuchte.
»Was findest du so lustig, Harald?«, fragte der König eisig. »Nichts? Das ist gut, denn ich habe eine ernste Angelegenheit mit dir zu besprechen und will, dass du ganz genau zuhörst! Von jetzt an wirst du in der Öffentlichkeit nicht mehr mit Prinzessin Julia streiten.«
»Aber Vater…«
»Halt den Mund! Und noch etwas, Harald! Ich möchte, dass du den Kerkermeister aufsuchst und dir von ihm die Verliese unmittelbar unter dem Burggraben zeigen lässt. Sie sind feucht, finster, mehr als eng – und der Geruch wird dir nicht zusagen. Außerdem heißt es, dass sie vom Schwamm befallen sind, der Insekten und kleine Nagetiere zersetzt und zur Abwechslung sicher auch mal Menschenfleisch verzehren würde. Sieh dich gründlich um und merke dir genau, was du gesehen hast! Denn ich schwöre Stein und Bein, dass ich dich und Julia in eine dieser Zellen sperren und erst am Hochzeitstag wieder herauslassen werde, wenn ihr in Hörweite des Hofes noch einmal die Stimmen erhebt! Nein, kein Wort mehr, Harald! Du gehst jetzt – auf der Stelle!«
Harald warf seinem Vater einen verdrießlichen Blick zu, gelangte zu dem Schluss, dass Schweigen im Moment die beste Tugend sei, und bemühte sich um eine würdevolle Haltung, als er den Thronsaal verließ. Das Bemühen scheiterte kläglich.
König Johann wartete, bis sich die Türen hinter Harald geschlossen hatten, und wandte sich dann an Julia. Er sah sie lange prüfend an.
»Sie halten nicht viel von Harald, habe ich Recht?«, fragte er schließlich.
Julia zuckte die Achseln. »Er hat vermutlich auch seine guten Seiten.«
»Er ist eine Nervensäge«, erklärte König Johann entschieden. »Sie müssen ihn nicht schön färben, meine Liebe, ich kenne ihn länger als Sie. Aber hinter der Maske des verwöhnten Taugenichts, den er bei Hof ganz überzeugend spielt, verbirgt sich der Mann, zu dem ich ihn erzogen habe – hart, skrupellos und unabhängig. Mit anderen Worten, bestens dazu geeignet, eines Tages die Herrschaft im Land zu übernehmen. Rupert kommt zu sehr auf seine Mutter hinaus. Er denkt mehr mit dem Herzen als mit dem Kopf. Ich habe als König immer mein Bestes gegeben, aber ich war im Grunde nicht für diese Aufgabe geschaffen. Das Gleiche gilt für Rupert. Harald dagegen… er könnte die beste Chance sein, die unser Reich erhält, um wieder auf die Beine zu kommen.
Selbst wenn es uns gelingt, die lange Nacht zu besiegen, wird das Waldkönigreich nie mehr das sein, was es früher einmal war. Zu viel ist geschehen. Die Barone haben Macht gewittert und werden sie freiwillig nicht wieder hergeben.
Eine Zeit lang bleiben die Dinge vielleicht noch im Lot, weil sich nichts von heute auf morgen verändert, aber wer immer mein Nachfolger auf dem Thron wird, muss hart, entschlossen und ein besserer Diplomat sein, als ich es war. Wo ich Loyalität befahl, wird Harald darum handeln und kämpfen müssen. Das müsste ihm durchaus liegen; er besaß schon immer ein natürliches Talent zur Täuschung und zum Betrug.
Aber es ist ihm nie leicht gefallen, Freunde zu gewinnen –
und er wird Menschen brauchen, denen er vertrauen kann, wenn er den Thron behalten will. Vor allem, wenn er einen Bürgerkrieg führen muss, um an der Macht zu bleiben.
Harald hat das Zeug zu einem großen König, doch er wird immer jemanden an seiner Seite brauchen, der sein Gewissen ist, der ihm rät, Gerechtigkeit durch Gnade zu mildern, der ihm Mitgefühl beibringt. Jemand, den er mag und den er achtet. Sie werden Harald eine gute Königin sein, Julia.«
»Ich will aber keine Königin sein.«
»Unsinn.«
»Ich liebe Harald nicht!«
»Sie müssen ihn nicht lieben. Bei einer königlichen Ehe ist die Pflicht wichtiger als die Liebe. Und runzeln Sie nicht die Stirn, als sei Pflicht ein Fluch. Sie ist ein Fluch, aber wir entkommen ihr nicht. Unsere Zugehörigkeit zu einem Herrschergeschlecht ist von Anfang an nicht nur mit Vorrechten, sondern auch mit Pflichten verbunden. Wir erhalten von allem das Beste, weil wir die härteste Arbeit erledigen müssen. Wir leben in Luxus, weil wir alle anderen Werte aufgeben. Wir bürden uns Pflichten auf, damit andere frei sein können. Und im Gegensatz zu anderen Berufen können wir den Kram nicht einfach hinschmeißen, wenn uns die Arbeit zu viel wird – oder wir wollen es zumindest nicht.
Sie sind ein sonderbares Mädchen, Julia, und manchmal verstehe ich Sie überhaupt nicht, aber in vielen Dingen erinnern Sie mich an Rupert. Sie sind ehrlich und treu, und Sie setzen Ihr Leben für das aufs Spiel, woran Sie glauben. Das ist in der heutigen Zeit eine seltene Kombination. Es gibt viele zwingende Gründe für diese Heirat zwischen Ihnen und Harald, aber für mich zählt nur ein einziger: Das Waldkönigreich braucht Sie!
Wie Sie sehen, meine Liebe, habe auch ich in dieser Angelegenheit keine Wahl. Ihre oder meine Wünsche spielen keine Rolle; wir müssen beide tun, was von uns verlangt wird. Der Kontrakt ist unterzeichnet, und die Hochzeit wird in zwei Wochen stattfinden, selbst wenn ich Bewaffnete ausschicken muss, um Sie zum Altar zu schleppen.«
Es entstand ein langes Schweigen. Julia starrte mit kalten, harten Augen die weiße Rüschenpracht des Hochzeitskleides an.
»Kann ich jetzt gehen, Sire?«
»Rupert kommt nicht zurück«, sagte der König leise.
»Ich weiß«, entgegnete Julia. »Sie haben ihn in den Tod geschickt.«
»Ich musste es tun«, sagte König Johann. »Es war meine Pflicht.«
Julia wandte sich von ihm ab und verließ den Thronsaal.
Draußen im Vorzimmer starrte Harald Sir Blays eisig an.
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