Es entstand ein langes Schweigen, während König Johann krampfhaft nach den richtigen Worten suchte. Der Bauer hatte seine Geschichte mit schonungsloser Ehrlichkeit vorgetragen, um sicherzugehen, dass der König begriff, wie die Dinge in der Birkenwald-Domäne standen. Der König begriff nur zu gut. Die Pest war vor knapp einem Monat an den Grenzen des Dunkelwaldes aufgetaucht und hatte sich mit erschreckender Schnelligkeit ausgebreitet. Anfangs glaubte man, dass Ratten die Seuche übertrugen, und dann fiel der Verdacht auf die Flüchtlinge, doch als immer mehr Todesfälle aus allen Teilen des Reiches gemeldet wurden, erhärtete sich die Gewissheit, dass es nur einen Ursprung für die Ansteckung geben konnte: Die Dämonen schleppten die Pest aus dem Dunkelwald heran.
Und nun hatten sie die Birkenwald-Domäne erreicht, die nur eine Wochenreise von der Residenz entfernt lag.
»Ich werde Priester und Ärzte schicken«, sagte der König schließlich. »Bis jetzt gibt es keine Heilmittel gegen die Seuche, doch vielleicht können sie den Schmerz der Sterbenden und ihrer Angehörigen lindern. Ich weiß nicht, wie viele euch erreichen werden. Es sind nicht mehr genug Leute zur Überwachung der Durchgangsstraßen da. Die Dämonen…«
»Die Dämonen! Immer die Dämonen!« Madoc Thorne sah den König mit Tränen der Wut und Verzweiflung in den Augen an. »Was nützen uns Priester und Ärzte, wenn sie keine Heilung bringen? Schicken Sie uns Soldaten, Sire –
Männer, die etwas vom Kämpfen verstehen und uns das Kämpfen beibringen! Wenn wir schon unsere Höfe nicht gegen die Pest verteidigen können, wollen wir sie wenigstens gegen die Dämonen verteidigen, die diese Pest verbreiten.
Ein Bogen vermag nicht viel. Ich weiß, dass die Barone uns Bauern den Umgang mit Schwert und Streitaxt stets verwehrt haben – aber nun wären richtige Waffen unsere einzige Hoffnung, der Pest Einhalt zu gebieten.«
König Johann betrachtete seine Hände, um den Bittstellern nicht in die Augen schauen zu müssen. Wie konnte er ihnen sagen, dass ihre beschwerliche Reise und ihre Opfer umsonst gewesen waren? Er seufzte leise und hob den Kopf, der immer noch an ein imposantes Löwenhaupt erinnerte. Er suchte nach tröstlichen Worten, um seine Absage zu mildern, doch als er ihre hoffnungsvollen Blicke sah, wusste er, dass er sie nicht belügen konnte.
»Meine Freunde, ich vermag euch nicht zu helfen. Ich habe keine Leute mehr, die eure Felder bewachen oder euch zu Schwertkämpfern ausbilden könnten. Die Barone unterstützen mich nicht mehr und werden freiwillig keine Soldaten zu eurer Entlastung abtreten. Waffen sind genug da; bedient euch nach Belieben! Aber ich kann keinen einzigen Mann entbehren.«
Die Bauern starrten den König an und tauschten entmutigte Blicke.
»Ist das alles?« Einer der jüngeren Männer trat vor und stellte sich neben Madoc Thorne. »Haben wir den weiten Weg umsonst gemacht? Haben wir Räuber und Wegelagerer und die Geschöpfe der Nacht vergeblich bekämpft? Haben wir unsere Höfe und Familien schutzlos zurückgelassen, nur um zu erfahren, dass Sie nichts für uns tun können?«
»Es tut mir Leid«, sagte König Johann.
Der junge Bauer ballte die Fäuste und wollte vorwärts stürmen, aber Thorne packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. »Es reicht! Lass den König in Ruhe! Er hat uns reinen Wein eingeschenkt, obwohl es einfacher für ihn gewesen wäre, uns zu belügen und mit schönen Worten abzuspeisen.
Auch wenn uns die Wahrheit nicht gefällt – wir wissen nun, woran wir sind.«
»Ja«, entgegnete der junge Bauer, »das allerdings.« Und er wandte sich ab, um seine Tränen zu verbergen.
»Wenn ich nur könnte, hülfe ich euch wirklich«, sagte der König.
»Das wissen wir«, erwiderte Madoc Thorne. »Tut uns Leid, dass wir Sie mit unseren Sorgen belastet haben, Majestät. Wir sehen jetzt, dass Sie ganz andere Probleme zu bewältigen haben. Wenn Sie Ihre Leute anweisen, uns ein paar Waffen herzurichten, machen wir uns morgen früh auf den Rückweg.«
»Natürlich«, sagte der König. »Einige Gardisten sollen euch auf den ersten Meilen Geleitschutz geben.«
»Nein, danke«, erklärte der Anführer der Bauern ruhig.
»Ich schätze, das schaffen wir allein.«
Er verneigte sich knapp, ehe er sich umdrehte und den Thronsaal verließ. Seine Begleiter verbeugten sich einer nach dem anderen vor dem König und folgten ihrem Sprecher nach draußen. König Johann erwiderte ihren Abschiedsgruß, und das blanke Mitleid in ihren Augen schmerzte ihn mehr als jedes Wort. Sie hatten sich durch die Finsternis bis an den Hof durchgekämpft, sie hatten ihn gegen die Landgrafen verteidigt, aber er war nicht in der Lage gewesen, ihnen zu helfen. Er hatte sie im Stich gelassen, und sie verziehen ihm, weil er ihr König war. Und obwohl die eigenen Sorgen sie niederdrückten, war in ihren Herzen noch Platz für Mitgefühl für den alten, müden Herrscher, der sein Amt nicht mehr bewältigen konnte. Der König sah ihnen nach und wusste, dass sie sich bei Tagesanbruch auf den Heimweg machen würden, um mit ihren Familien zu sterben. Der Letzte der Abordnung schloss leise die Tür, aber in der Stille des Audienzsaals klang es, als hätte er sie zugeschlagen.
»Majestät?«, begann einer der Leibwächter, aber der König brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.
»Geht den Bauern nach!«, befahl er brüsk. »Besorgt ihnen ein Nachtquartier und sagt dem Seneschall, er möge ihnen die Waffen ihrer Wahl geben. Dann macht euch auf die Suche nach dem Kommandanten der Königlichen Garde und bestellt ihn hierher. Und richtet meinem Sohn aus, dass er und Julia noch eine Weile warten müssen, bis ich Zeit für sie habe.
Beeilt euch, damit ihr die Bauern noch einholt!«
Die Wachposten verneigten sich rasch und verließen schweigend den Raum.
König Johann lehnte sich zurück und ließ die Blicke durch den leeren Saal schweifen. Draußen war die Nacht hereingebrochen, und das Dunkel presste gegen die Buntglasfenster.
Die vielarmigen Lüster verbreiteten ein goldenes Licht, und im Kamin loderte ein helles Feuer, aber um die Dachbalken sammelten sich die Schatten, und in der Nachtluft lag eine Kälte, die kein Feuer vertreiben konnte. Der König starrte grimmig umher und versuchte sich vorzustellen, wie der Audienzsaal auf die Bauern gewirkt haben musste. Ein leises Entsetzen erfasste ihn, als er seine Umgebung zum ersten Mal so wahrnahm, wie sie wirklich war – und nicht so, wie er sie von früher in Erinnerung hatte. Das Parkett war seit Monaten nicht mehr mit Wachs poliert worden, ein dunkler Rußfilm lag auf den Porträts und Tapeten, und selbst das Marmorpodest, auf dem sein Thronsessel stand, wies Risse und angestoßene Ecken auf. Doch das waren nur die äußeren Zeichen der Verwahrlosung. Darunter verbarg sich der Mief von Alter, von etwas, dessen Zeit abgelaufen war. Das Waldkönigreich hatte eine lange Reihe von Herrschern gesehen, als König Johann den Thron bestieg, aber nie zuvor war es ihm so verblichen und schäbig vorgekommen. Wie so viele Dinge war es im Lauf der Jahre allmählich zerfallen, ohne dass er es bemerkte hatte.
Wie ist es nur dazu gekommen?, dachte der König, während er den ausgefransten Hermelinkragen seines Umhangs zwischen den Fingern drehte. Er hatte immer sein Bestes für das Reich gegeben, hatte alles getan, was von ihm verlangt wurde. Er hatte sich gut verheiratet und eine glückliche Ehe geführt, bis ihm eine heimtückische Krankheit seine Frau genommen hatte, vor einundzwanzig langen Jahren. König Johann seufzte tief, als die Erinnerungen auf ihn einströmten.
Es hatte so harmlos angefangen. Eine Erkältung nach einem Bad im sommerlichen See. Und dann war aus der Erkältung ein schweres Fieber und aus dem Fieber etwas Schlimmeres entstanden. Am Ende lag sie da, das Gesicht hager von der Auszehrung, während der Kopf hilflos in den schweißgetränkten Kissen hin und her rollte. Immer wieder hatte sie hellrotes Blut gehustet, in langen, schmerzhaften Krämpfen, die ihren zerbrechlichen Körper marterten. All die langen Tage und die noch längeren Nächte hatte König Johann an ihrem Krankenlager gesessen und ihre Hand gehalten, aber sie merkte nicht einmal, dass er da war. Die größten Ärzte und Magier waren seinem Ruf gefolgt und hatten ihr zu helfen versucht, aber keiner von ihnen vermochte sie zu retten, und zuletzt konnte er nur noch ohnmächtig zusehen, wie die geliebte Frau qualvoll starb.
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