Mit zitternden Knien stand er auf und sah direkt vor sich Dr. John Dee.
Dee war von einer blassgelben Aura umgeben. Der Mann hatte ihm den Rücken zugekehrt und stützte sich mit beiden Armen auf der niedrigen Mauer neben dem Trinkwasserspender ab, aus dem Josh zuvor getrunken hatte. Dee konzentrierte sich ganz auf das Geschehen auf der Straße, das er ganz offensichtlich befehligte. Er zitterte vor Anstrengung, die scheinbar endlose Schlange der Gestalten unter Kontrolle zu halten. Skelette – es waren alles Skelette! Erst jetzt bemerkte Josh, dass sich noch andere Wesen im Nebel verbargen. Er erkannte die sterblichen Reste von Bären und Tigern, Berglöwen und Wölfen.
Josh hörte Flamel rufen und Sophie schreien, und sein erster Gedanke war, sich auf Dee zu stürzen. Aber wahrscheinlich wäre er gar nicht erst an ihn herangekommen. Was konnte er gegen diesen mächtigen Magier ausrichten? Er war nicht wie seine Zwillingsschwester. Er besaß keinerlei magische Kräfte.
Aber das hieß noch lange nicht, dass er zu nichts zu gebrauchen war.
Von Sophies Schrei ging eine Schockwelle eisiger Luft aus, die den Säbelzahntiger pulverisierte und die am nächsten stehenden Skelette zurücktrieb. Der riesige Bär sackte zu Boden und begrub ein Dutzend Skelette unter sich. Die Druckwelle hatte auch ein paar Nebelfetzen weggerissen, und erst jetzt erkannte Sophie, mit welcher enormen Macht sie es zu tun hatten. Das waren nicht Dutzende oder Hunderte, das waren Tausende Toter aus dem Westen der USA, die da die Straße heruntermarschierten. Dazwischen liefen die knöchernen Reste der Tiere, die jahrhundertelang in den umliegenden Bergen gejagt hatten. Sie wusste nicht, was sie noch tun konnte. Der Einsatz ihrer magischen Kräfte laugte sie völlig aus. Erschöpft sank sie gegen Scathach, die sie mit dem linken Arm auffing, während sie mit dem rechten das Schwert schwang.
Flamel versuchte, sich verbissen zusammenzureißen, aber auch seine Energiereserven waren erschöpft, und er war in den letzten Minuten merklich gealtert. Die Falten um seine Augen herum waren tiefer, seine Haare weniger geworden. Scathach wusste, dass er es nicht mehr lang aushalten würde.
»Gib ihm die Seiten, Nicholas«, drängte sie.
Er schüttelte störrisch den Kopf. »Nein. Das kann ich nicht. Ich habe mein ganzes Leben dem Schutz des Buches gewidmet.«
»Wer den Rückzug antritt, lebt länger«, erinnerte sie ihn.
Wieder schüttelte er den Kopf. Er stand vornübergebeugt da und atmete keuchend. Seine Haut war totenbleich, nur auf den Wangen leuchteten zwei unnatürlich rote Flecken. »Das ist die Ausnahme von der Regel, Scathach. Wenn ich ihm die Seiten gebe, ist das unser aller Untergang – Perenelle und die ganze Welt mit eingeschlossen.« Er richtete sich auf und wandte sich den Gestalten zu. »Könntest du bitte Sophie wegbringen?«
Scathach schüttelte den Kopf. »Ich kann die Bestien nicht abwehren und gleichzeitig Sophie tragen.«
»Könntest du allein entkommen?«
»Ich könnte mir den Weg freikämpfen«, erwiderte sie vorsichtig.
»Dann geh, Scatty. Flieh. Geh zu den anderen Älteren. Nimm Kontakt zu den unsterblichen Menschen auf, erzähle ihnen, was hier passiert ist, bekämpfe die Dunklen, bevor es zu spät ist.«
»Ich lasse dich und Sophie hier nicht im Stich«, sagte Scathach bestimmt. »Wir stehen das zusammen durch – bis zum Ende. Wie immer das aussehen mag.«
»Zeit zu sterben, Nicholas Flamel«, rief Dee aus dem Nebel.
»Ich werde dafür sorgen, dass Perenelle in allen Einzelheiten von diesem Augenblick erfährt.«
Ein Zittern ging durch die Menge der Menschen- und Tier-Skelette, dann preschten alle auf einmal vorwärts.
Ein Ungeheuer tauchte aus dem Nebel auf.
Riesig und schwarz, mit zwei großen weißgelben und Dutzenden von kleineren Augen, die alle funkelten und glühten, stob es mit wildem Gebrüll mitten durch den Libbey-Park-Brunnen, zermalmte ihn zu Staub, zerschmetterte die Wasserschalen und stürzte sich auf Dr. John Dee.
Der Totenbeschwörer konnte sich gerade noch zur Seite werfen, bevor der schwarze Geländewagen in die Wand donnerte und mit der Schnauze nach unten darin stecken blieb. Die Hinterräder hingen in der Luft, der Motor heulte. Die Fahrertür ging auf, Josh stieg aus und ließ sich vorsichtig auf den Boden gleiten. Er presste die Hand auf die Brust, wo der Sicherheitsgurt ihn gehalten hatte.
Die Hauptstraße von Ojai war mit den Überresten der längst Toten übersät. Ohne Dee, der sie konzentriert befehligte, waren sie zusammengefallen zu nichts weiter als einem Haufen Knochen.
Josh stolperte auf die Straße und suchte sich einen Weg zwischen Knochen und Kleiderfetzen hindurch. Unter seinen Füßen knirschte es, aber er schaute gar nicht hin.
Und plötzlich waren die Skelette verschwunden.
Sophie hatte keine Ahnung, was geschehen war. Sie hatte ein donnerndes Röhren gehört, das Kreischen und Knirschen von Metall und Stein. Und dann Stille. Und in der Stille waren die Toten umgefallen wie gemähtes Gras. Was hatte Dee noch auf Lager?
Eine Gestalt kam im wirbelnden Nebel auf sie zu.
Flamel sammelte den letzten Rest seiner Energie in einer massiven Kugel aus grünem Glas. Sophie straffte die Schultern und versuchte ebenfalls, noch etwas Energie zu aktivieren. Scathach ließ die Fingerknöchel knacken. Man hatte ihr einmal vorhergesagt, dass sie an einem exotischen Ort sterben würde. Konnte man Ojai als exotisch bezeichnen?
Die Gestalt kam näher.
Flamel hob die Hand – und Josh trat aus dem Nebel.
»Ich habe den Wagen geschrottet«, sagte er.
Sophie stieß einen Freudenschrei aus. Sie rannte auf ihren Bruder zu – und aus dem Freudenschrei wurde ein Schrei des Entsetzens. Das Bären-Skelett hatte sich wieder aufgerichtet und stand nun mit erhobenen Pranken hinter Josh.
Scathach setzte sich in Bewegung. Sie stieß Josh unsanft zur Seite, sodass er in einem Knochenberg landete, und parierte mit ihrem Schwert den Hieb der Bärentatze. Funken sprühten. Eines nach dem anderen rappelten sich die Skelette wieder auf. Zwei riesige Wölfe erhoben sich, tauchten bleich aus dem Nebel auf...
»Hierher! Los, kommt! Hierher!« Die Stimme der Hexe drang von der anderen Straßenseite zu ihnen herüber und das helle Rechteck einer offenen Tür leuchtete einladend.
Scatty stützte Flamel, und Josh musste seine Schwester halb tragen, als sie über die Straße zum Laden rannten. Die Hexe von Endor stand in der Tür, schaute mit blinden Augen in die Nacht und hielt eine altmodische Öllaterne hoch. »Ihr müsst hier weg.« Sie zog die Tür zu und legte die Riegel vor. »Das wird sie nicht lange aufhalten«, brummte sie.
»Ich dachte... ich dachte, du hättest keine Kraft mehr«, flüsterte Sophie.
»Ich habe auch keine mehr.« Ein Lächeln huschte über Doras Gesicht. »Aber der Ort hier hat noch welche.« Sie führte sie durch den Laden in ein winziges Hinterzimmer. »Wisst ihr, was Ojai zu etwas so Besonderem macht?«
Etwas krachte gegen die Tür und sämtliche Glaswaren klirrten und klimperten.
»Unter der Stadt kreuzen sich Kraftlinien.«
Josh öffnete den Mund und hatte schon das Wort »Kraftlinien« auf der Zunge, als Sophie ihm ins Ohr flüsterte: »Energielinien, die sich über den ganzen Globus ziehen.«
»Woher weißt du das?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich von der Hexe. Viele der berühmtesten Gebäude und archäologischen Fundstätten der Welt befinden sich am Schnittpunkt von Kraftlinien.«
»Genau.« Dora klang hochzufrieden. »Ich hätte es nicht besser erklären können.«
Das kleine Hinterzimmer war leer bis auf ein langes, schmales rechteckiges Etwas, das an der Wand lehnte und in vergilbte Ausgaben der Ojai Valley Times eingeschlagen war.
Draußen wurde weiter gegen das Schaufenster gehämmert und das Kratzen von Knochen auf Glas machte sie alle nervös.
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