»Ich bin bald wieder da.« Dann rief er, ohne auch nur einen Muskel zu rühren, seine bereitstehende Armee herbei.
Mit einem Schlag wurde der Nebel dunkel und undurchdringlich. Es stank nach faulen Eiern und noch etwas anderem: nach Staub und trockener Erde, nach Feuchtigkeit und Schimmel.
Über Ojai brach das Grauen herein.
N icholas Flamels Hände begannen schon grün zu leuchten, als er die Ladentür öffnete und ärgerlich das Gesicht verzog, weil die Glocke fröhlich bimmelte.
Die Sonne war untergegangen, während die Hexe mit Sophie gearbeitet hatte, und ein kalter Nebel war von den umliegenden Bergen herunter ins Tal gezogen. Er wirbelte durch die Hauptstraße von Ojai, schlängelte sich durch die Bäume und überzog alles, was er berührte, mit winzigen Wassertröpfchen. Autos schlichen die Straße entlang, doch ihre Scheinwerfer schafften es kaum, die Nebelschwaden zu durchdringen. Menschen waren keine mehr unterwegs. Sie waren alle vor der Feuchtigkeit in die Häuser geflüchtet.
Scatty trat neben Flamel. Sie hatte ein kurzes Schwert in der einen Hand und ein an der Kette baumelndes Nunchaku in der anderen. »Das gefällt mir nicht. Ganz und gar nicht.« Sie atmete tief ein. »Riechst du das?«
Flamel nickte. »Schwefel. Der Geruch von Dee.«
Scatty rasselte mit dem Nunchaku. »Langsam geht er mir wirklich auf die Nerven.«
Irgendwo in der Ferne schepperte es metallisch, als zwei Autos zusammenstießen. Die Alarmanlage eines Wagens begann zu tuten und dann hörte man einen Schrei, hoch und voller Panik, und dann noch einen und noch einen.
»Es kommt. Was immer es ist«, bemerkte Flamel grimmig.
»Ich habe keine Lust, hier hängen zu bleiben«, sagte Scatty. »Lass uns Josh finden und zum Wagen gehen.«
»Abgemacht. Wer den Rückzug antritt, lebt länger.« Flamel schaute noch einmal in den Laden. Die Hexe von Endor hielt Sophie am Arm fest und flüsterte ihr eindringlich etwas zu. Immer noch kräuselte weißer Rauch um das Mädchen herum und Fetzen von weißer Luft fielen wie Verbandsreste von ihren Fingern.
Sophie beugte sich vor und küsste die alte Frau auf die Wange, dann drehte sie sich um und lief zu Flamel und Scatty.
»Wir müssen los«, sagte sie atemlos, »wir müssen hier weg.« Sie hatte keine Ahnung, was sie auf der Straße erwartete, aber mit ihrem neuen Wissen hatte sie keine Probleme, im Nebel alle möglichen Monster zu vermuten.
»Und macht die Tür hinter euch zu!«, rief die Hexe.
Im selben Moment flackerten sämtliche Lichter auf und erloschen dann. Ojai lag im Dunkeln.
Die Glocke bimmelte noch einmal, als das Trio die Tür hinter sich zuzog und auf die menschenleere Straße trat. Der Nebel war so dicht geworden, dass die Autofahrer gezwungen waren, am Straßenrand anzuhalten. Es floss kein Verkehr mehr auf der Hauptstraße. Alles war unnatürlich still. Flamel wandte sich an Sophie. »Kannst du sagen, wo Josh ist?«
»Er wollte im Park auf uns warten.« Sie kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen, doch der Nebel war so dicht, dass selbst sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnte. Flankiert von Flamel und Scatty trat sie vom Bürgersteig auf die Straße. »Josh? Wo bist du?« Der Nebel schluckte ihre Worte und dämpfte sie zu einem Flüstern. Sie versuchte es noch einmal: »Josh?«
Keine Antwort.
Plötzlich kam ihr ein Gedanke und sie streckte die rechte Hand mit gespreizten Fingern aus. Ein Luftstoß ging von ihrer Hand aus, doch er hatte keinerlei Auswirkung auf den Nebel, außer dass sich Strudel bildeten und um sie her tanzten. Bei Sophies zweitem Versuch fegte ein eisiger Wind über die Straße und schnitt einen sauberen Korridor in den Nebel. Er streifte auch die hintere Stoßstange eines mitten auf der Straße abgestellten Wagens und hinterließ eine Beule. »Huch«, murmelte Sophie, »ich glaube, ich muss noch ein bisschen üben.«
Eine Gestalt trat in die Lücke im Nebel, danach eine zweite und eine dritte. Und keine war lebendig.
Am nächsten bei Sophie, Flamel und Scatty stand ein vollständiges Skelett, groß und aufrecht. Die Reste eines blauen Uniformmantels der US-Kavallerieoffiziere hingen in Fetzen an ihm und in den Knochenfingern hielt es den rostigen Stumpf eines Schwerts. Als es ihnen den Kopf zuwandte, knirschten die Halswirbel.
»Totenbeschwörung«, keuchte Flamel. »Dee hat die Toten aufgeweckt.«
Eine weitere Gestalt tauchte aus dem Nebel auf: Es war die Leiche eines Mannes mit einem riesigen Hammer, wie ihn die Streckenarbeiter der Eisenbahn bei sich trugen. Dahinter kam ein weiterer Toter; das Fleisch, das noch an ihm war, glich gegerbtem Leder. Zwei lederne Pistolengürtel schlackerten um seine Hüften, und als er die Gruppe sah, griffen seine Skelettfinger automatisch nach den nicht vorhandenen Waffen.
Sophie war starr vor Schreck. Der Wind aus ihren Fingern legte sich. »Sie sind tot«, flüsterte sie. »Skelette. Mumien. Alle tot.«
»Du sagst es«, bestätigte Scatty sachlich. »Skelette und Mumien. Es hängt davon ab, in welcher Art von Boden sie beerdigt wurden. In feuchter Erde gibt’s Skelette.« Sie machte einen Schritt nach vorn, ließ das Nunchaku wirbeln und schlug einem weiteren Haudegen, der versucht hatte, ein verrostetes Gewehr an die Schulter zu heben, glatt den Kopf ab. »Trockene Erde ergibt Mumien. Aber egal ob Skelett oder Mumie, wehtun können sie dir immer noch.« Der skelettierte Kavallerieoffizier mit dem abgebrochenen Schwert holte aus und sie wehrte den Hieb mit ihrem eigenen Schwert ab. Seine rostige Klinge zerbröselte. Scatty holte ein zweites Mal aus und trennte den Kopf vom Körper, der augenblicklich in sich zusammenfiel.
Obwohl sich die schlurfenden Gesellen vollkommen lautlos bewegten, hörte man jetzt von allen Seiten Schreie. Und obwohl der Nebel sie dämpfte, waren Angst und schieres Entsetzen deutlich herauszuhören. Die Bewohner von Ojai hatten mitbekommen, dass die Toten durch ihre Straßen marschierten.
Der Nebel wimmelte nur so von den Gestalten. Sie näherten sich dem Trio von allen Seiten und kesselten sie mitten auf der Straße ein. Im Wirbel der Nebelschwaden wurden für kurze Zeit immer mehr Skelette und Mumien sichtbar: Soldaten in den zerfetzten blauen und grauen Uniformen des Bürgerkriegs; Farmer in altmodischen Arbeitshosen; Cowboys mit abgewetzten Lederstulpen über zerrissenen Jeans; Frauen in langen, weiten Röcken, die in Fetzen an ihnen hingen; Minenarbeiter in speckigem Wildleder.
»Er hat den Friedhof einer dieser alten, verlassenen Städte um Ojai geöffnet!«, rief Scatty. Sie stand mit dem Rücken zu Sophie und verteilte Hiebe in alle Richtungen. »Die Kleider hier stammen alle aus der Zeit vor 1880.« Zwei Skelett-Frauen in den Resten ihres Sonntagsstaats mit passenden Hauben kamen mit ausgestreckten Armen auf ihren Knochenfüßen über die Hauptstraße geklappert. Scattys Schwert schnitt ihnen den Weg ab, doch langsamer wurden sie deshalb nicht. Scatty steckte das Nunchaku in den Gürtel, zog das zweite Schwert, kreuzte die Waffen vor sich und schlug dann beide Köpfe gleichzeitig ab. Sie kullerten in den Nebel, während die Skelette zu Knochenhaufen zerfielen.
»Josh!«, rief Sophie noch einmal mit vor Verzweiflung ganz hoher Stimme. »Josh! Wo bist du?« Vielleicht waren die Mumien und Skelette zuerst bei ihm gewesen. Vielleicht tauchte er im nächsten Augenblick aus dem Nebel auf – mit leerem Blick und verdrehtem Kopf. Sie schüttelte sich, um die schaurigen Gedanken loszuwerden.
Flamels Hände leuchteten kalt und grün und in der feuchten Luft lag der Geruch nach Minze. Er schnippte mit den Fingern und schickte eine grünlich lodernde Flamme in die Nebelbänke. Sie glühte smaragdgrün und aquamarinblau, doch ansonsten zeigte der Zauber keinerlei Wirkung. Als Nächstes warf Flamel eine kleine grüne Lichtkugel zwei schwankenden Skeletten direkt vor die Füße. Feuer züngelte über sie weg und verbrannte die Reste ihrer Südstaaten-Uniformen. Sie kamen dennoch mit klappernden Knochen näher und hinter ihnen waren hundert weitere.
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