Dora riss die Zeitungen ab und enthüllte einen Spiegel. Er war über zwei Meter hoch, gut einen Meter breit, staubig und fleckig, und das, was sich darin spiegelte, war leicht verzerrt und verschwommen. »Und wisst ihr, was mich überhaupt nach Ojai geführt hat?«, fragte die Hexe weiter. »Hier kreuzen sich sieben bedeutende Kraftlinien. Sie bilden ein Tor.«
»Hier?«, wisperte Flamel. Er wusste um die Kraftlinien und hatte von den Toren gehört, die die Erstgewesenen benutzten, um die Welt innerhalb von Augenblicken zu durchqueren. Dass immer noch welche existierten, hatte er nicht gedacht.
Dora tippte mit dem Fuß auf den Boden. »Genau hier. Und weißt du, wie man ein von Kraftlinien gebildetes Tor öffnet?«
Flamel schüttelte den Kopf.
Dora streckte die Hand nach Sophie aus. »Gib mir die Hand, Kind.« Sie nahm sie und legte sie auf das Glas. »Man nimmt einen Spiegel.«
Augenblicklich begann der Spiegel zu leuchten, das Glas glühte silbern und wurde dann klar. Als sie hineinschauten, sahen sie nicht mehr sich selbst, sondern einen kahlen, kellerähnlichen Raum.
»Wo?«, fragte Flamel.
»Paris.«
»Frankreich.« Er lächelte. »Daheim.«
Und ohne zu zögern trat Flamel in das Spiegelglas. Es nahm ihn auf, als wäre es aus Luft, und jetzt sahen ihn die anderen in dem Raum im Spiegel. Flamel drehte sich um und winkte sie zu sich herüber.
»Ich hasse diese Tore«, murmelte Scatty. »Mir wird immer ganz schlecht davon.«
Auch Scatty sprang durch das Glas und kam neben Flamel wieder auf die Füße. Als sie sich zu den Zwillingen umdrehte, sah sie aus, als müsse sie sich gleich übergeben.
Das Bären-Skelett trottete einfach durch die Ladentür und riss sie dabei aus den Angeln. Die Wölfe und Pumas folgten. Vasen fielen um, Spiegel gingen zu Bruch, und Glasfigürchen zersprangen, als die Bestien durch den Laden trampelten.
Ein mit Schrammen und blauen Flecken übersäter Dee kam hereingerannt und stieß die Tiere beiseite. Ein Puma schnappte nach ihm und er gab ihm eins auf die Schnauze.
»Jetzt hab ich euch!«, rief Dee triumphierend. »Ihr sitzt in der Falle und kommt nicht mehr raus!«
Doch als er ins Hinterzimmer trat, traf ihn wie ein Schlag die Gewissheit, dass seine Feinde ihm wieder einmal entwischt waren. Es dauerte nur einen Herzschlag lang, bis Dee die Lage erfasst hatte: den hohen Spiegel, die beiden Gestalten darin, die herausschauten, die alte Frau, die neben dem Mädchen stand, deren Hand wiederum aufs Glas drückte... Der Junge stand auf der anderen Seite und hielt sich am Spiegelrahmen fest. Dee wusste sofort, worum es sich handelte. »Ein Krafttor«, flüsterte er ehrfürchtig. Immer waren es Spiegel, die als Tore fungierten. Irgendwo am anderen Ende der Kraftlinie musste wieder ein Spiegel stehen.
Die alte Frau nahm das Mädchen und schob sie durchs Glas. Sophie purzelte Flamel vor die Füße und drehte sich sofort wieder um. Ihre Lippen bewegten sich, doch es war nichts zu hören. Josh .
Dee fixierte den Jungen und befahl: »Bleib, wo du bist, Josh.«
Josh wandte sich dem Spiegel zu. Das Bild darin verblasste schnell und war nur noch verschwommen zu erkennen.
»Was ich dir über Flamel gesagt habe, war die Wahrheit«, sagte Dee eindringlich. Er brauchte den Jungen nur noch eine oder zwei Minuten lang abzulenken, dann würde der Spiegel seine Kraft verlieren. »Bleib hier bei mir. Ich kann dich erwecken. Dir Macht verleihen. Du kannst mithelfen, die Welt zu verändern. Sie besser zu machen!«
»Ich weiß nicht...«
Das Angebot war verlockend. So verlockend. Aber Josh wusste, wenn er bei Dee blieb, würde er seine Schwester vollends verlieren. – Wirklich? Wenn Dee seine Kräfte ebenfalls weckte, wären sie einander wieder ebenbürtig. Vielleicht war das auch eine Möglichkeit, sich seiner Schwester wieder anzunähern...?
»Schau doch hin«, sagte Dee und zeigte auf das immer schwächer werdende Bild im Spiegel. »Sie haben dich erneut im Stich gelassen. Du bist ihnen nicht mehr wichtig.«
Im Spiegel blitzte es silbern auf – und mit einem Mal sprang Sophie wieder aus dem Glas heraus und ins Zimmer. »Josh? Beeile dich«, keuchte sie, ohne Dee anzusehen.
»Ich...«, begann er. »Du bist wegen mir zurückgekommen?«
»Natürlich bin ich wegen dir zurückgekommen. Du bist mein Bruder. Wie könnte ich dich je im Stich lassen?«
Sophie griff nach seiner Hand, zog ihn zum Spiegel und dann mit einem Ruck durch das Glas.
Dora gab dem Spiegel einen Schubs, sodass er umkippte und in tausend Stücke zerbarst. »Huch!« Sie drehte sich zu Dee um und nahm ihre dunkle Brille ab, damit er ihre Spiegelaugen sehen konnte. »Du solltest jetzt besser gehen. Du hast ziemlich genau drei Sekunden Zeit.«
Dee schaffte es nicht ganz auf die Straße, bevor der Laden explodierte.
FILMGESELLSCHAFT SORGT FÜR CHAOS IM BESCHAULICHEN OJAI
Der jüngste der vielen Horrorfilme der Enoch-Studios sorgte gestern in der Innenstadt von Ojai für Verkehrschaos und Panik. Die Spezialeffekte waren für einige Bewohner etwas zu realistisch, und in der Rettungszentrale gingen Notrufe ein von Menschen, die behaupteten, die Toten marschierten durch ihre Straßen.
John Dee, Vorstand der Enoch Films, einer Tochtergesellschaft der Enoch Unternehmensgruppe, entschuldigte sich vielmals für die Verwirrung. Grund dafür seien ein Stromausfall und ein für die Jahreszeit ungewöhnlich dichter Nebel gewesen, der aufgetreten sei, als gerade eine Szene aus dem neuen Film gedreht werden sollte. »Das hatte zur Folge, dass die außergewöhnlichen Effekte außergewöhnlich gruselig wirkten«, erklärte sein Sprecher.
Aufgrund des allgemeinen Chaos fuhr ein betrunkener Autofahrer durch den historischen Libbey-Park-Brunnen und kam in der erst kürzlich renovierten Pergola zum Stehen. Dee versprach, Brunnen sowie Pergola baldmöglichst wieder in ihrer alten Pracht erstrahlen zu lassen.
Ojai Valley Nachrichten
EXPLOSION ZERSTÖRT ANTIQUITÄTENGESCHÄFT
Gestern zerstörte eine Gasexplosion am späten Abend das Ladengeschäft der seit Langem in Ojai ansässigen Dora Witcherly. Durch einen elektrischen Defekt entzündeten sich Lösungsmittel, mit denen die Besitzerin ihre Antiquitäten säuberte und polierte. Miss Witcherly war zum Zeitpunkt des Unglücks im Hinterzimmer des Ladens. Sie blieb unverletzt, doch die Tatsache, dass sie dem Tod nur knapp entronnen war, beeindruckte sie offenbar wenig. »Wenn Sie so lange gelebt haben wie ich, überrascht Sie nichts mehr«, meinte sie.
Miss Witcherly versprach, den Laden bald wiederzueröffnen.
Ojai Online
J ief in den Katakomben von Alcatraz lag Perenelle Flamel auf einer schmalen Pritsche, das Gesicht der hinteren Zellenwand zugekehrt. Draußen auf dem Flur klackten die Krallen der Sphinx auf den kalten Steinplatten auf und ab. Perenelle überlief ein Schauer. In der Zelle war es eiskalt und nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt lief grünlich gefärbtes Wasser die Zellenwand herunter.
Wo war Nicholas? Was war geschehen?
Perenelle hatte Angst, aber nicht um sich selbst. Die Tatsache, dass sie noch am Leben war, bedeutete, dass Dee sie zu irgendetwas brauchte und sie ihm früher oder später gegenüberstehen würde. Und wenn Dee eine Schwäche hatte, war es Hochmut. Er würde sie unterschätzen... Und dann würde sie zuschlagen. Es gab da eine ganz besondere Zauberformel, die sie in den Karpaten in Transsylvanien gelernt hatte und die sie sich für ihn aufsparte.
Wo war Nicholas?
Sie hatte Angst um Nicholas und die Zwillinge. Sie konnte kaum einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, doch nach den Falten auf ihren Handrücken zu urteilen, war sie um mindestens zwei Jahre gealtert, also mussten zwei Tage vergangen sein. Perenelle seufzte. Nicholas und sie hatten nur noch einen knappen Monat Zeit, bevor sie an Altersschwäche sterben würden. Und wenn niemand mehr da war, der sich ihnen in den Weg stellte, würden Dee und seine Handlanger die Welt erneut in Dunkelheit stürzen. Das wäre das Ende jeder Zivilisation.
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