Wo war Nicholas?
Perenelle blinzelte ein paar Tränen fort. Die Genugtuung, sie weinen zu sehen, wollte sie der Sphinx nicht gönnen. Die Wesen des Älteren Geschlechts hatten für menschliche Gefühle nur Verachtung übrig. Sie hielten sie für die größte Schwäche der Menschheit. Perenelle aber wusste, dass sie ihre größte Stärke waren.
Sie blinzelte erneut, und es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was sie sah.
Das stinkende Wasser, das an der Wand herunterlief, hatte sich verändert und bildete nun ein flaches Muster. Sie schaute genauer hin und versuchte, in dem Muster etwas zu erkennen.
Im Wasser erschien ein Gesicht. Das von Jefferson Miller, dem Geist des Wachmanns. Die Wassertropfen formten Buchstaben auf der moosbewachsenen Wand.
Flamel. Zwillinge.
Die Worte standen keinen Herzschlag lang da, bevor sie wieder zerflossen.
In Sicherheit.
Jetzt musste Perenelle heftig blinzeln, um weiter klar sehen zu können. Nicholas und die Zwillinge waren in Sicherheit!
Ojai. Krafttor. Paris.
»Danke!«, hauchte Perenelle tonlos, als Jefferson Millers Gesicht sich auflöste und die Wand hinunterfloss. Sie hatte noch so viele Fragen – doch jetzt wenigstens auch ein paar Antworten: Nicholas und die Geschwister waren in Sicherheit. Sie waren offenbar in Ojai gewesen und hatten die Hexe von Endor getroffen. Die musste das Krafttor geöffnet und sie nach Paris versetzt haben, woraus man schließen konnte, dass die Hexe ihnen auch sonst geholfen und Sophie in die Luftmagie eingewiesen hatte.
Perenelle wusste, dass es der Hexe nicht gegeben war, Joshs Kräfte zu wecken, doch in Paris und überall in Europa lebten Erstgewesene, die vielleicht helfen konnten, die Josh erwecken und die Zwillinge in der Magie der fünf Elemente ausbilden konnten.
Perenelle drehte sich auf der Pritsche um. Die Sphinx kauerte jetzt vor ihrer Zelle, den Frauenkopf vorgeneigt, die mächtigen Flügel auf dem Rücken zusammengefaltet. Sie lächelte träge.
»Es geht zu Ende, Unsterbliche«, flüsterte die Sphinx.
Perenelles Lächeln war strahlend. »Im Gegenteil. Jetzt fängt es erst richtig an.«
Nicholas und Perenelle Flamel haben tatsächlich gelebt. Dr. John Dee ebenfalls. Mit Ausnahme der Zwillinge fußen tatsächlich alle Figuren in Der unsterbliche Alchemyst auf historischen Persönlichkeiten oder mythologischen Wesen.
Ganz am Anfang, als mir die Idee zu meinem Buchprojekt kam, dachte ich noch, mein Held müsse Dr. John Dee sein.
John Dee hat mich schon immer fasziniert. Zur Zeit von Königin Elisabeth I. – einer so wichtigen, prägenden Epoche – war er eine herausragende Persönlichkeit. Dee zählte zu den genialsten Männern der damaligen Zeit, und alles, was in meinem Roman über sein Leben erzählt wird, ist geschichtlich verbürgt. Er war Alchemist, Mathematiker, Geograf, Astronom und Astrologe. Er legte das Datum für die Krönung von Königin Elisabeth fest, und als er Teil ihres Spionagenetzwerks war, unterzeichnete er seine verschlüsselten Nachrichten tatsächlich mit »007«. Die beiden Nullen standen für die Augen der Königin, und das, was aussah wie eine 7, war Dees persönliches Kürzel. Gewisse Anhaltspunkte lassen darauf schließen, dass Dee das Vorbild für Shakespeares Prospero war, der Hauptfigur in seinem Drama Der Sturm .
Die Idee, eine Buchreihe zu entwickeln, die einen Alchemisten zur Hauptperson haben würde, hatte sich über mehrere Jahre in meinem Kopf verfestigt, und ich hatte bereits ganze Stapel von Notizbüchern mit Entwürfen gefüllt. Es schien irgendwie logisch, dass es Dees Reihe werden sollte. Während ich andere Bücher schrieb, kam ich immer wieder auf diese Idee zurück, fügte neues Material hinzu, verflocht die Legenden der Welt miteinander und schuf so den komplexen Hintergrund für die einzelnen Bände. Ich erkundete die Schauplätze, besuchte sie immer wieder und fotografierte alles, was ich in der Reihe beschreiben und verwenden wollte.
Jede Geschichte beginnt mit einer Idee, aber erst die Figuren – die nach und nach lebendig werdenden Figuren – treiben diese Idee voran. Die Zwillinge sind mir als Erstes eingefallen. Es ging in meiner Geschichte immer um einen Jungen und ein Mädchen und in der Mythologie sind Zwillinge stets etwas ganz Besonderes. So ziemlich jedes Volk und jede Überlieferung kennt eine Zwillingsgeschichte. Als meine Geschichte weiter Form annahm, kamen die Nebenrollen dazu: Scathach und die Morrigan und später Hekate und die Hexe von Endor. Aber ich hatte den Helden noch nicht gefunden – den Mentor und Lehrer der Zwillinge. Dr. John Dee war als Romanfigur zwar wunderbar, aber für meinen speziellen Zweck einfach nicht der Richtige.
Dann hatte ich im Spätherbst 2000 geschäftlich in Paris zu tun. Sich in Paris zu verirren, ist fast ein Kunststück, wenn man weiß, wo die Seine ist, denn man sieht für gewöhnlich immer eines oder mehrere der berühmten Wahrzeichen der Stadt wie den Eiffelturm, die Kirchen Sacré Cœur oder Nôtre Dame – aber ich habe es irgendwie geschafft. Ich war in der Kathedrale von Nôtre Dame gewesen, hatte auf der Pont d’Arcole die Seine überquert und war in Richtung Centre Pompidou gegangen … Und irgendwo zwischen dem Boulevard de Sebastopol und der Rue Beaubourg verirrte ich mich. Ich war nicht völlig orientierungslos, so ungefähr wusste ich noch, wo ich mich befand, aber es wurde langsam Nacht. Ich bog von der Rue Beaubourg in die schmale Rue du Montmorency ein, und als ich hochschaute, stand ich genau unter einem Schild mit der Aufschrift Auberge Nicholas Flamel. Es war das Haus, in dem Nicholas Flamel und seine Frau einst gewohnt hatten, und eine Tafel erklärte, dass es aus dem Jahr 1407 stammte und somit eines der ältesten Häuser von Paris war.
Ich ging hinein und stand in einem reizenden Restaurant, wo ich zu Abend aß. Es war ein seltsames Gefühl, in demselben Raum zu sitzen, in dem der legendäre Nicholas Flamel gelebt und gearbeitet hatte. Die freiliegenden Deckenbalken sahen aus, als stammten sie noch aus dem ursprünglich errichteten Gebäude – was bedeutet hätte, dass auch Nicholas Flamel sie gesehen hätte. Im Keller unter mir hätten er und Perenelle ihre Lebensmittelvorräte und den Wein gelagert, und ihr Schlafzimmer wäre in dem kleinen Raum direkt über mir gewesen.
Ich wusste damals schon eine ganze Menge über den berühmten Nicholas Flamel. Dee, der eine der größten Bibliotheken Englands sein Eigen nannte, besaß Flamels Bücher und hatte sie aller Wahrscheinlichkeit nach aufmerksam gelesen.
Nicholas Flamel war einer der berühmtesten Alchemisten seiner Zeit. Die Alchemie ist eine eigenwillige Mischung aus Chemie, Botanik, Medizin, Astronomie und Astrologie. Sie hat eine lange und bedeutsame Geschichte, wurde im alten Griechenland und in China studiert, und es heißt, dass sie die Grundlage der modernen Chemie bildet. Genau wie bei Dee entsprechen auch sämtliche in Der unsterbliche Alchemyst genannten Lebensdaten von Nicholas Flamel den Tatsachen. Wir wissen eine ganze Menge über ihn, da nicht nur seine eigenen Werke noch existieren, sondern zu seinen Lebzeiten auch viel über ihn geschrieben wurde.
Flamel wurde 1330 geboren und hielt sich als Buchhändler und Schreiber über Wasser, indem er für Kunden Briefe schrieb und Bücher kopierte. Eines Tages kaufte er ein ganz besonderes Buch: Abrahams Buch der Magie. Auch dieses Werk hat es wirklich gegeben, und Nicholas Flamel hat uns eine sehr detaillierte Beschreibung des kupferbeschlagenen Bandes hinterlassen, der auf einem rindenähnlichen Papier geschrieben war.
In Begleitung von Perenelle reiste Flamel über zwanzig Jahre lang quer durch Europa und versuchte, die seltsame Sprache zu entschlüsseln, in der das Buch verfasst war.
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