Niemand weiß, was Nicholas Flamel auf dieser Reise erlebte. Belegt ist, dass er, als er Ende des 14. Jahrhunderts nach Paris zurückkehrte, außerordentlich reich war. Rasch verbreitete sich das Gerücht, er habe in Abrahams Buch die beiden großen Geheimnisse der Alchemie entdeckt: wie man den Stein der Weisen herstellt, der gewöhnliches Metall in Gold verwandeln kann, und wie man den Tod überwinden und unsterblich werden kann. Weder Nicholas noch Perenelle wollten die Gerüchte bestätigen, aber sie gaben auch nie eine Erklärung dafür ab, wie sie zu ihrem enormen Reichtum gekommen waren.
Nicholas und Perenelle lebten dennoch weiterhin bescheiden und gaben einen Großteil ihres Geldes für wohltätige Zwecke aus. Sie gründeten Krankenhäuser und Waisenhäuser und ließen Kirchen bauen.
Aus Überlieferungen geht hervor, dass Perenelle zuerst starb. Kurz darauf, im Jahr 1418, wird der Tod von Nicholas Flamel vermerkt. Sein Haus wurde verkauft und die Käufer nahmen es auf der Suche nach seinem immensen Reichtum praktisch auseinander. Es wurde nie ein Geldschatz gefunden.
Eines Nachts wurde das Grab der Flamels geschändet, und man entdeckte – dass es leer war. Waren sie an einem geheimen Ort begraben worden oder etwa gar nicht gestorben? Die Gerüchteküche in Paris brodelte – und die Legende von den unsterblichen Flamels wurde geboren.
In den Jahren darauf will man die Flamels in ganz Europa gesehen haben.
Als ich die Auberge Nicholas Flamel an diesem Abend verließ, schaute ich mir das Haus noch einmal an. 600 Jahre zuvor lebte und arbeitete hier einer der berühmtesten Alchemisten der Welt, ein Mann, der sich der Wissenschaft verschrieben hatte, der ein riesiges Vermögen gemacht und es wieder weggegeben hatte und dessen Haus von der dankbaren Pariser Bevölkerung instand gehalten wurde. Sogar Straßen wurden nach ihm und seiner Frau benannt (die Rue Nicholas Flamel und die Rue Perenelle im 4. Arrondissement).
Ein Unsterblicher.
Und in diesem Augenblick wusste ich, dass der Mentor der Zwillinge nicht Dee sein konnte. Sophie und Josh würden von Nicholas und Perenelle ausgebildet werden. Als ich an diesem feuchten Herbstabend vor dem Haus der Flamels stand, fanden sich alle Teile des Buches zusammen, und die Geheimnisse des unsterblichen Nicholas Flamel nahmen Gestalt an.
Vordereingang zur Auberge Nicholas Flamel in der Rue du Montmorency in Paris
Und so geht es weiter mit Band 2 in der Reihe
{Die Geheimnisse des {NICHOLAS FLAMEL}
Ich sterbe.
Wie meine Frau Perenelle werde ich mit jedem Tag, der vergeht, ein Jahr älter. Keinen Monat mehr haben wir zu leben.
Aber in einem Monat kann viel geschehen.
Dee und seine dunklen Gebieter haben Perenelle gefangen genommen. Nach so langer Zeit konnten sie sich endlich den Codex verschaffen, Abrahams Buch der Magie. Aber zufrieden sein können sie nicht.
Inzwischen wissen sie, dass Sophie und Josh die in dem alten Buch erwähnten Zwillinge sind. Sie sind die Zwillinge aus Prophezeiung und Legende, umgeben mit Auren von Silber und Gold, Bruder und Schwester mit der Macht, die Welt entweder zu retten – oder sie zu vernichten. Die Kräfte des Mädchens wurden erweckt. Die des Jungen schmerzlicherweise noch nicht.
Jetzt sind wir in Paris, meiner Geburtsstadt, der Stadt, in der ich den Codex zum ersten Mal in Händen hielt und von der aus ich mich aufmachte, um ihn zu verstehen. Auf dieser Reise begegnete ich dem Älteren Geschlecht, löste das Rätsel um den Stein der Weisen und entschlüsselte schließlich das letzte Geheimnis: das der Unsterblichkeit.
Ich liebe diese Stadt. Sie birgt so viele Geheimnisse und beheimatet Erstgewesene wie Unsterbliche der menschlichen Art. Hier werde ich eine Möglichkeit finden, Joshs Kräfte zu wecken und mit Sophies Ausbildung fortzufahren.
Ich muss.
Für sie – und für die ganze Menschheit.
Aus dem Tagebuch von Nicholas Flamel, Alchemyst
Niedergeschrieben am heutigen Tag, Freitag, den 1. Juni,
in Paris, der Stadt meiner Jugend
SAMSTAG, 2. Juni
Kapitel Eins
D ie Wohltätigkeitsauktion hatte erst nach Mitternacht begonnen, nachdem das Gala-Dinner beendet worden war. Inzwischen war es fast vier Uhr morgens, und erst jetzt näherte sich die Versteigerung ihrem Ende. Auf einer digitalen Anzeigetafel hinter dem berühmten Auktionator – ein Schauspieler, der viele Jahre lang James Bond verkörpert hatte – war zu lesen, dass die Gesamteinnahmen bereits über eine Million Euro betrugen.
»Stücknummer zweihundertundzehn: zwei japanische Kabuki-Masken aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert.«
Ein aufgeregtes Flüstern ging durch den voll besetzten Raum. Die Kabuki-Masken aus massivem Jadestein waren der Höhepunkt der Auktion, und man erwartete, dass sie über eine halbe Million Euro einbrachten.
Der große, schlanke Mann mit dem kurz geschnittenen schneeweißen Haar war bereit, das Doppelte zu zahlen.
Niccolò Machiavelli stand etwas abseits, die Arme leicht über der Brust gekreuzt, sichtlich bedacht darauf, dass sein schwarzer, maßgeschneiderter Seidensmoking nicht zerknautscht wurde. Er hatte steingraue Augen und sein Blick glitt abschätzend über die anderen Bieter. Im Grunde waren es nur fünf, auf die er achten musste: zwei private Sammler wie er selbst, ein unbedeutendes Mitglied des europäischen Adels, ein amerikanischer Filmschauspieler, der es in den achtziger Jahren kurzzeitig zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hatte, und ein Antiquitätenhändler, der wahrscheinlich für einen Kunden mitbot. Der Rest der Gesellschaft – eine Mischung von Berühmtheiten aus Unterhaltung und Sport, ein paar vereinzelte Politiker und die üblichen Leute, die bei jeder Wohltätigkeitsveranstaltung zu finden waren – war entweder müde, oder ihr Budget war erschöpft, oder sie wollten nicht mitbieten für die geheimnisvollen Masken, die aus irgendeinem Grund irritierend wirkten.
Machiavelli sammelte seit langer Zeit Masken und diese beiden sollten seine Sammlung japanischer Theaterkostüme vervollständigen. Die beiden Masken hatten zuletzt 1898 in Wien zum Verkauf gestanden, aber damals war er von einem Prinzen aus dem Hause Romanow überboten worden. Machiavelli hatte geduldig gewartet. Er hatte gewusst, dass sie wieder auf den Markt kommen würden, sobald der Prinz und seine Nachkommen gestorben waren. Und er hatte gewusst, dass er immer noch da sein würde, um sie zu kaufen. Das war einer der vielen Vorteile, wenn man unsterblich war.
»Sollen wir mit einem Gebot von hunderttausend Euro beginnen?«
Machiavelli schaute auf, fing den Blick des Auktionators auf und nickte.
Der Auktionator nickte seinerseits. »Monsieur Machiavelli, einer der großzügigsten Sponsoren dieser Veranstaltung, bietet einhunderttausend Euro.«
Applaus brandete auf und etliche Leute drehten sich nach ihm um und hoben ihr Glas. Niccolò dankte mit einem höflichen Nicken.
»Höre ich einhundertundzehn?«, fragte der Auktionator.
Einer der privaten Sammler hob die Hand.
»Einhundertundzwanzig?« Der Auktionator blickte erneut zu Machiavelli hinüber, der sofort nickte.
Innerhalb der nächsten drei Minuten kamen die Gebote Schlag auf Schlag und trieben den Preis auf zweihundertfünfzigtausend Euro hinauf. Es waren nur noch drei ernsthafte Interessenten übrig: Machiavelli, der amerikanische Schauspieler und der Antiquitätenhändler.
Machiavellis schmale Lippen verzogen sich zu einem seltenen Lächeln. Die Masken würden ihm gehören! Das Lächeln verging ihm allerdings, als sein Handy in seiner Anzugtasche zu vibrieren begann. Einen Augenblick lang war er versucht, es zu ignorieren – schließlich hatte er seinen Mitarbeitern strikte Anweisung gegeben, ihn nur im äußersten Notfall zu stören. Dann zog er das superschlanke Nokia heraus.
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