Nach einer Weile kam Measure mit Al Junior den Hügel herab. Geschichtentauscher wagte es nicht, die dritte Stimme zu sein, da er zuvor am Gespräch teilgenommen hatte. Doch es würde noch schlimmer sein, wenn Alvin als nächster sprach, da er ja mit einem Unglücksraben in Verbindung gebracht worden war. Daher hielt Geschichtentauscher seinen Blick auf Measure gerichtet und hob die Augenbrauen, um Measure anzuzeigen, daß von ihm eine Antwort erwartet wurde.
Measure beantwortete die Frage, von der er glaubte, daß Geschichtentauscher sie ihm gestellt hatte. »Oh, Pa ist oben am Fels. Hält Wache.«
Geschichtentauscher hörte, wie David und Calm erleichtert aufseufzten. Die dritte Stimme hatte keinen Unglücksraben im Sinn gehabt, so daß Alvin Junior in Sicherheit war.
Nun konnte Geschichtentauscher sich ungehindert fragen, weshalb Miller meinte, im Steinbruch Wache halten zu müssen. »Was soll einem Felsen schon passieren? Ich habe noch nie gehört, daß die Roten Steine stehlen würden.«
Measure zwinkerte. »Manchmal können mächtig seltsame Dinge passieren, vor allem mit Mühlsteinen.«
Alvin scherzte jetzt mit David und Calm, während er die Knoten band. Er strengte sich an, um sie so fest wie möglich zu bekommen, doch Geschichtentauscher sah, daß sein Talent sich nicht im Knoten selbst offenbarte. Während Al Junior die Seile verschnürte, schienen sie sich wie von allein ins Holz zu winden, und zwar in allen Kerben, was den ganzen Schlitten fester zusammenzog.
»Das ist fest genug, um auch als Floß dienen zu können«, sagte Al Junior und machte einen Schritt zurück, um sein eigenes Werk zu bewundern.
»Na ja, diesmal treibt es auf fester Erde«, meinte Measure. »Pa sagt, daß er in Wasser nicht einmal mehr hineinpissen wird.«
Da die Sonne im Westen allmählich unterging, begannen sie, ein Feuer zu entfachen. Den Tag über hatte die Arbeit sie warmgehalten, doch in der Nacht würden sie ein Feuer brauchen, um die Tiere abzuwehren und die Kälte zu ertragen.
Miller kam nicht herunter, nicht einmal zum Abendessen, und als Calm aufstand, um seinem Vater auf dem Hügel das Essen zu bringen, erbot sich Geschichtentauscher, mitzukommen.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Calm. »Das braucht Ihr wirklich nicht.«
»Ich möchte aber.«
»Pa — er hat es nicht gern, wenn sich viele Leute zu einer solchen Zeit am Felsen versammeln.«
Calm wirkte ein wenig verlegen. »Er ist ein Müller, und es ist sein Stein, der dort gehauen wird.«
»Ich bin nicht viele Leute«, erwiderte Geschichtentauscher. Calm sagte nichts mehr, und Geschichtentauscher folgte ihm den Fels hinauf.
Unterwegs kamen sie an zwei Stellen vorbei, wo früher schon Gestein gehauen worden war. Die Brocken aus behauenem Gestein hatte man dazu verwendet, um eine glatte Rampe vom Felsen hinunter zu bauen. Die Schnitte im Stein waren fast vollkommen rund. Geschichtentauscher hatte schon viele behauene und beschnittene Steine gesehen, doch nie solche — vollkommen rund, mitten in der Felswand. Meistens schlug man ein Stück heraus und rundete es erst am Boden ab. Calm ging seinetwegen nicht langsamer, so daß Geschichtentauscher keine Gelegenheit hatte, noch genauer hinzusehen, doch soweit er das beurteilen konnte, gab es keine Möglichkeit, wie der Steinhauer in diesem Steinbruch die Rückseite des Steins hatte schneiden können.
An der neuen Stelle sah es ganz genauso aus. Miller rechte gerade Steinsplitter zu einer ebenen Rampe vor dem Mühlstein zusammen. Geschichtentauscher ging ein Stück zurück und musterte in den letzten Flecken des Tageslichts die Felswand. Ganz allein arbeitend, hatte Al Junior an einem einzigen Tag die Vorderseite des Mühlsteins glattgehauen. Der Stein war praktisch poliert, noch immer an der Felswand hängend. Darüber hinaus war sogar schon das Mittelloch hineingeschnitten worden, um den Hauptschaft der Mühlenmaschine aufzunehmen. Es war vollends ausgehauen. Und auf der ganzen Welt gab es keine Möglichkeit, wie jemand einen Meißel anbringen konnte, um die Rückseite abzuschlagen.
»Das ist aber ein ordentliches Talent, das der Junge da hat«, meinte Geschichtentauscher.
Miller nickte zustimmend.
»Habe gehört, daß Ihr die Nacht hier oben verbringen wollt«, sagte Geschichtentauscher.
»Richtig gehört.«
»Würde Euch Gesellschaft stören?» fragte Geschichtentauscher.
Calm rollte die Augen.
Doch nach einer kleinen Weile zuckte Miller die Schultern. »Wie Ihr wollt.«
Calm blickte Geschichtentauscher mit weiten Augen an und hob die Augenbrauen, als wollte er sagen, daß es immer noch Zeichen und Wunder gäbe.
Nachdem Calm Millers Essen abgestellt hatte, ging er wieder davon. Miller legte den Rechen beiseite. »Habt Ihr schon gegessen?«
»Ich gehe Holz sammeln für das Feuer«, erwiderte Geschichtentauscher. »Solange es noch etwas hell ist. Eßt Ihr erst einmal.«
»Paßt auf Schlangen auf«, sagte Miller. »Die meisten haben sich zwar schon zum Winter zurückgezogen, aber man kann nie wissen.«
Geschichtentauscher achtete auf Schlangen, bekam aber keine zu sehen.
Schon bald hatten sie ein gutes Feuer, das die ganze Nacht brennen würde.
Im Licht des Feuers lagen sie in ihre Decken gehüllt. Geschichtentauscher fiel auf, daß Miller ein paar Ellen von dem Steinbruch entfernt weicheren Boden hätte finden können. Doch anscheinend war es von größter Wichtigkeit, den Mühlstein im Auge zu behalten.
Geschichtentauscher begann zu reden. Er sprach davon, wie schwer es für Väter sein mußte, mitanzusehen, wie ihre Söhne aufwuchsen, so voller Hoffnung für die Jungen, doch niemals wissend, wann der Tod kommen und das Kind fortholen würde. Es war ein Thema, auf das Alvin Miller nach einigem Zögern einging. Er erzählte die Geschichte von seinem ältesten Jungen Vigor, der im Hatrack River umgekommen war, nur wenige Minuten nach Alvin Juniors Geburt. Und dann kam er auf die vielen Momente zu sprechen, da Al Junior beinahe gestorben wäre. »Immer das Wasser«, sagte Miller zum Schluß. »Es glaubt mir zwar keiner, aber so ist es. Immer das Wasser.«
»Die Frage lautet«, meinte Geschichtentauscher, »ist das Wasser böse, will es einen guten Jungen vernichten? Oder ist es gut und versucht es, eine böse Macht zu vernichten?«
Eine solche Frage hätte viele Männer wütend gemacht, doch Geschichtentauscher hatte es schon lange aufgegeben, zu erraten, wie Miller auf etwas reagieren würde.
»Das habe ich mich auch schon gefragt«, entgegnete Miller ohne sonderliche Erregung. »Ich habe ihn genau beobachtet, Geschichtentauscher. Natürlich besitzt er ein Talent, die Menschen dazu zu bringen, ihn zu lieben. Sogar seine Schwestern. Seit er alt genug war, um in ihr Essen zu spucken, hat er sie gnadenlos gepeinigt. Und doch gibt es nicht eine von ihnen, der nicht irgend etwas einfiele, um ihm eine besondere Freude zu machen. Sie bringen es zwar fertig, seine Socken zuzunähen oder Ruß auf seinen Stuhl zu schmieren, aber zugleich würden sie für ihn sterben.«
»Ich habe festgestellt«, meinte Geschichtentauscher, »daß manche Leute die Fähigkeit haben, die Liebe anderer zu gewinnen, ohne sie jemals verdient zu haben.«
»Ich habe darüber auch schon nachgedacht«, erwiderte Miller. »Aber der Junge weiß gar nicht, daß er dieses Talent besitzt. Er bringt die Menschen nicht durch Tricks dazu, zu tun, was er will. Er läßt sich von mir bestrafen, wenn er etwas Falsches getan hat. Und wenn er wollte, könnte er mich durchaus daran hindern.«
»Wieso denn?«
»Weil er weiß, daß ich manchmal, wenn ich ihn sehe, in ihm meinen Sohn Vigor erblicke, meinen Erstgeborenen, und dann kann ich ihm nicht weh tun, auch wenn der Schmerz zu seinem Besten wäre.«
Möglich, daß diese Begründung zum Teil der Wahrheit entsprach, überlegte Geschichtentauscher. Aber mit Sicherheit war es nicht die ganze Wahrheit.
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