»Was steht dort?» fragte Mama. Sie stand an der anderen Seite des Tisches vor ihnen.
Geschichtentauscher las vor. »Ein Macher ist geboren.«
»Es hat keinen Macher oder Schöpfer mehr gegeben«, sagte Mama, »seit jenem, der das Wasser in Wein verwandelt hat.«
»Vielleicht nicht, aber das hat sie jedenfalls geschrieben«, sagte Geschichtentauscher.
»Wer hat es geschrieben?» wollte Mama wissen.
»Ein kleines Mädchen. Es ist ungefähr fünf Jahre her…«
»Welche Geschichte gehörte zu ihrem Satz?» fragte Alvin Junior.
Geschichtentauscher schüttelte den Kopf.
»Ihr habt doch gesagt, daß Ihr die Leute nie hineinschreiben laßt, es sei denn, Ihr kennt ihre Geschichte.«
»Sie hat es hineingeschrieben, als ich gerade nicht hinsah«, erklärte Geschichtentauscher. »Ich habe es erst bei meinem nächsten Halt bemerkt.«
»Woher wißt Ihr dann, daß sie es gewesen ist?» fragte Alvin.
»Sie war es«, erwiderte er. »Sie war die einzige dort, die den Zauber hätte öffnen können, den ich damals auf dieses Buch gelegt hatte.«
»Dann wißt Ihr also gar nicht, was es bedeutet? Ihr könnt mir nicht einmal sagen, warum ich diese Buchstaben habe brennen sehen?«
Geschichtentauscher schüttelte den Kopf. »Wenn ich mich recht erinnere, war sie die Tochter eines Gastwirts. Sie sprach nur sehr wenig, und wenn sie es tat, so war es immer völlig wahr. Nicht eine Lüge, nicht einmal, um gütig zu sein. Sie galt als etwas widerspenstig. Doch wie das Sprichwort sagt: Wenn du immer sagst, was du denkst, wird der böse Mann dich meiden. Oder irgend etwas ähnliches.«
»Und ihr Name?» fragte Mama. Überrascht hob Alvin den Blick. Mama hatte die leuchtenden Buchstaben nicht gesehen, warum wollte sie nur unbedingt erfahren, wer sie geschrieben hatte?
»Tut mir leid«, sagte Geschichtentauscher. »Ich erinnere mich im Augenblick nicht an ihren Namen. Und wenn ich mich erinnerte, so würde ich ihn nicht sagen, und ich werde auch nicht sagen, ob ich noch weiß, wo sie lebte. Ich möchte nicht, daß die Leute sie aufsuchen und um Antworten belästigen, die sie möglicherweise nicht geben will. Aber soviel will ich sagen. Sie war eine Fackel und sah mit wahren Augen. Wenn sie also schrieb, daß ein Macher geboren wurde, so glaube ich es, und deshalb habe ich ihre Worte auch im Buch gelassen.«
»Eines Tages möchte ich ihre Geschichte hören«, sagte Alvin. »Ich möchte wissen, warum die Buchstaben so hell waren.«
Er hob den Blick wieder und sah, wie Mama und Geschichtentauscher einander fest in die Augen blickten.
Und dann, irgendwie in der Ferne spürte er den Entmacher, bebend, unsichtbar, darauf wartend, die Welt zu vernichten. Ohne auch nur darüber nachzudenken, zog Alvin den vorderen Teil seines Hemdes aus der Hose und verknotete die Ecken miteinander. Der Entmacher zögerte, dann zog er sich zurück.
Geschichtentauscher erwachte. Draußen war es immer noch dunkel, aber es war Zeit aufzustehen. Er setzte sich auf, streckte sich ein wenig und freute sich, wie ausgeruht er war, seit er auf einem weichen Bett schlief. Es könnte mir gefallen, hier zu leben, dachte er.
Der Speck war so fett, daß er ihn in der Küche brutzeln hörte. Er wollte gerade seine Stiefel anziehen, als Mary an der Tür klopfte. »Ich bin mehr oder weniger vorzeigbar«, sagte er.
Sie trat ein, reichte ihm zwei Paar langer, dicker Socken. »Ich habe sie selbst gestrickt«, sagte sie.
»Solchen Socken würde ich nicht einmal in Philadelphia zu kaufen bekommen.«
»Im Winter wird es hier im Wobbish-Land ziemlich kalt, und…«
Sie beendete den Satz nicht. Schüchtern zog sie den Kopf ein und huschte wieder aus dem Raum.
Geschichtentauscher zog die Socken an und streifte die Stiefel darüber, dann grinste er. Er hatte kein schlechtes Gewissen, Geschenke anzunehmen. Er arbeitete genauso hart wie alle anderen und hatte sehr viel dazu beigetragen, die Farm winterfest zu machen.
Ohne irgendwelche Hilfe hatte er die Mühle für einen Mühlstein vorbereitet. Er selbst hatte das Heu vom Mühlenboden auf Karren geladen. Die Zwillinge, deren eigene Farmen ihnen noch nicht soviel Arbeit machten, da sie erst in diesem Sommer geheiratet hatten, hatten die Wagen in der großen Scheune entladen. Alles war geschehen, ohne daß Miller selbst auch nur eine Heugabel hätte anrühren müssen.
Andere Dinge jedoch liefen nicht so gut. Ta-Kumsaw und seine Shaw-Nee-Roten vertrieben so viele Leute unten aus Carthage, daß die Weißen Angst bekamen. Zwar war erfreulich, daß der Prophet in seiner großen Stadt auf der anderen Seite des Flusses ständig davon redete, daß seine Roten niemals die Hand zum Krieg erheben würden. Aber es gab sehr viele Rote, die so dachten wie Ta-Kumsaw, nämlich daß man die Weißen am besten nach Europa zurücktreiben sollte. Man sprach vom Krieg; es hieß, daß Bill Harrison unten in Carthage nur zu begierig war, dieses Feuer zu schüren, ganz zu schweigen von den Franzosen in Detroit, die die Roten ständig drängten, die amerikanischen Siedler in jenem Land anzugreifen, das die Franzosen als Teil Kanadas beanspruchten.
Die Leute in der Stadt Vigor Church redeten ständig darüber, aber Geschichtentauscher wußte, daß Miller das Gerede nicht allzu ernst nahm. Er hielt die Roten für Landtölpel, die nichts anderes wollten, als soviel Whiskey zu saufen, wie sie nur bekommen konnten. Geschichtentauscher hatte diese Einstellung schon früher beobachtet, allerdings nur in New England. Yankees schienen niemals zu begreifen, daß die Roten von New England, die überhaupt noch Mumm besaßen, alle schon längst nach Irrakwa übergesiedelt waren. Sicherlich würde es den Yankees die Augen öffnen, wenn sie sähen, daß die Irrakwa schwer arbeiteten, etwa mit Dampfmaschinen, die direkt aus England stammten. Eines Tages würden die Yankees erwachen und feststellen, daß die Roten keineswegs alle schnapstoll waren, und dann würden einige Weiße sich ganz schön abstrampeln müssen, um noch mit ihnen Schritt zu halten.
Bisher jedenfalls schenkte Miller dem Kriegsgerede keine sonderliche Beachtung. »Jedermann weiß doch, daß es in den Wäldern Rote gibt. Man kann sie nicht daran hindern, sich dort herumzutreiben, aber bisher fehlen mir noch keine Hühner, daher ist es also auch noch kein Problem.«
»Noch etwas Speck?» fragte Miller. Er schob Geschichtentauscher den Speck über den Tisch zu.
»Ich bin es nicht gewohnt, am Morgen soviel zu essen«, sagte Geschichtentauscher. »Seit ich hier bin, habe ich zu jeder Mahlzeit mehr zu essen bekommen, als ich sonst den ganzen Tag verzehrt habe.«
»Dann bekommt Ihr wenigstens etwas Fleisch auf die Knochen«, sagte Faith. Sie legte zwei heiße Brötchen auf seinen Teller, die mit Honig beschmiert waren.
»Ich bekommen keinen Bissen mehr herunter«, protestierte Geschichtentauscher.
Da glitten die Brötchen von Geschichtentauschers Teller. »Nehme sie schon«, meinte Al Junior.
»Greif nicht einfach so über den Tisch«, sagte Miller. »Und außerdem kannst du nicht beide Brötchen essen.«
In beunruhigend kurzer Zeit bewies Al Junior, daß sein Vater sich geirrt hatte. Dann wuschen sie sich den Honig von den Händen, legten die Handschuhe an und gingen hinaus zum Wagen. Im Osten erschien gerade das erste Licht, als David und Calm, die ein Stück farmabwärts wohnten, herbeigeritten kamen. Al Junior kletterte hinten auf den Wagen, zu den ganzen Werkzeugen und Seilen und Zelten und Vorräten — es würde einige Tage dauern, bevor sie zurückkehrten.
»Also… warten wir noch auf die Zwillinge und auf Measure?» fragte Geschichtentauscher.
Miller schwang sich auf den Kutscherbock. »Measure ist schon vorangeritten, er fällt Bäume für den Schlitten. Und Wastenot und Wantnot bleiben hier, reiten Streife von Haus zu Haus.«
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