»Tertius, geh zum Fenster. Was siehst du?«
»Nichts, Vater. Es ist so, wie Primus gesagt hat. Über uns erstreckt sich der Abendhimmel in der Farbe eines Blutergusses, und die Welt unter uns ist von Wolken bedeckt, grau und unruhig.«
Nun zuckten die Augen des Alten wie bei einem Raubvogel. »Septimus, jetzt du… zum Fenster.«
Septimus schlurfte zum Fenster und stellte sich neben seine älteren Brüder, allerdings in einem gewissen Sicherheitsabstand.
»Und du? Was siehst du?«
Auch Septimus schaute hinaus durch die Öffnung. Der bitterkalte Wind trieb ihm die Tränen in die Augen. Am dunklen Himmel flimmerte schwach ein Stern.
»Ich sehe einen Stern, Vater.«
»Ahh«, ächzte der einundachtzigste Lord. »Bringt mich zum Fenster.« Seine vier toten Söhne blickten ihn traurig an, als die drei lebenden ihn zum Fenster trugen. Dort stand der Alte, schwer auf die breiten Schultern seiner Kinder gestützt, und starrte in den bleiernen Himmel.
Seine dünnen Krallenfinger mit den geschwollenen Gelenken fummelten an dem Topas herum, der an einer schweren Silberkette um seinen Hals hing. Unter dem Griff des alten Mannes zerriß sie, als bestünde sie aus Spinnweben, und er hielt den Topas in der Faust, während die Enden der Kette zu beiden Seiten herabbaumelten.
Die toten Lords von Stormhold wisperten untereinander mit den Stimmen der Toten, die klingen wie fallender Schnee: Der Topas enthielt die Macht von Stormhold. Wer ihn trug, war Herr über Stormhold, sofern das Blut der Stormholds in ihm floß. Welchem seiner überlebenden Söhne würde der einundachtzigste Lord den Stein nun geben?
Die lebenden Söhne schwiegen und machten ein erwartungsvolles oder wachsames beziehungsweise ausdrucksloses Gesicht (wobei die Ausdruckslosigkeit trügerisch war, wie eine glatte Felswand, an der man hochklettert und auf halbem Wege merkt, daß man sie nicht bewältigen kann, es aber auch keinen Weg zurück gibt).
Der alte Mann machte sich von seinen Söhnen los und reckte sich zu voller Größe empor. Einen Herzschlag lang war er der Lord von Stormhold, der die Goblins des Nordens in der Schlacht von Cragland’s Head bezwungen hatte, der mit drei Frauen acht Kinder – davon sieben Söhne – gezeugt hatte, der alle seine vier Brüder im Kampf getötet hatte, ehe er zwanzig war, obgleich sein ältester Bruder beinahe fünfmal so alt war wie er und ein ruhmreicher Krieger. Dieser Mann hielt nun den Topas empor und sprach vier Worte in einer lange ausgestorbenen Sprache; Worte, die in der Luft dröhnten wie die Schläge eines riesigen Bronzegongs.
Dann warf er den Stein in die Luft. Die lebenden Brüder hielten den Atem an, als der Stein in hohem Bogen über die Wolken sauste. Er erreichte den Zenit der Kurve, stieg jedoch gegen jede Regel der Vernunft immer weiter in die Lüfte.
Jetzt glitzerten noch andere Sterne am Nachthimmel.
»Demjenigen, der den Stein zurückgewinnt, den Stein, der die Macht von Stormhold verkörpert, demjenigen hinterlasse ich meinen Segen und die Regentschaft über Stormhold und seine Herrschaftsgebiete«, sprach der einundachtzigste Lord. Allmählich verlor seine Stimme wieder ihre Kraft, bis sie nur noch das Krächzen eines uralten Mannes war, wie das Ächzen des Windes in einem verlassenen Haus.
Lebende wie tote Brüder starrten auf den Stein, der in den Himmel aufstieg und schließlich verschwand.
»Sollen wir jetzt vielleicht jeder einen Adler fangen und satteln, der uns in den Himmel trägt?« fragte Tertius, ratlos und verärgert.
Doch sein Vater erwiderte nichts. Das letzte Licht des Tages erstarb, und über ihnen schienen die Sterne, zahllos in ihrer Glorie.
Da fiel ein Stern vom Himmel.
Tertius glaubte, in ihm den ersten Stern des Abends erkannt zu haben, den sein Bruder Septimus erwähnt hatte. Aber er war nicht ganz sicher.
Als Lichtstrahl taumelte die Sternschnuppe über den Nachthimmel und fiel irgendwo im Südwesten auf die Erde nieder.
»Dort«, flüsterte der einundachtzigste Lord, stürzte auf den Steinboden des Gemachs und blieb reglos liegen. Er atmete nicht mehr.
Primus kratzte sich am Bart und blickte auf das in sich zusammengesunkene Häufchen hinab, das sein Vater gewesen war. »Ich hätte fast Lust, den Leichnam des alten Bastards aus dem Fenster zu werfen«, meinte er. »Was war denn das für ein idiotischer Quatsch?«
»Das sollten wir aber lieber nicht tun«, erwiderte Tertius. »Wir wollen doch weder, daß Stormhold in Schutt und Asche zerfällt, noch können wir einen Fluch über unseren Häuptern gebrauchen. Laßt ihn uns in die Ahnenhalle bringen.«
Primus hob den Körper seines Vaters hoch und schleppte ihn zurück auf die Pelze im Bett.
Die vier toten Brüder gesellten sich zu Septimus am Fenster.
»Was er wohl denkt?« fragte Quintus seinen Bruder Sextus.
»Er fragt sich, wo der Stein hingefallen ist und wie er ihn als erster erreichen kann«, antwortete Sextus und erinnerte sich an seinen eigenen Sturz hinab auf die Felsen und hinein in die Ewigkeit.
»Das will ich auch verdammt noch mal hoffen«, sagte der verstorbene einundachtzigste Lord von Stormhold zu seinen vier toten Söhnen. Aber die drei lebenden Söhne hörten von all dem nichts.
* * *
Auf die Frage »Wie groß ist das Feenland?« gibt es keine simple Antwort.
Schließlich ist das Feenland kein einheitliches Land, Fürstentum oder Herrschaftsgebiet. Landkarten vom Feenland sind unzuverlässig, man sollte ihnen also nie trauen.
Wir sprechen über die Könige und Königinnen des Feenlands genauso wie über die von England. Aber das Feenland ist weit größer als England und auch größer als die Welt (denn seit Menschengedenken hat jedes Land, das von Forschern und Helden durch den wissenschaftlichen Beweis seiner Nichtexistenz von der Landkarte verdrängt wurde, im Feenland Zuflucht gesucht; deshalb ist das Feenland jetzt, da wir darüber berichten, ein Ort von wahrhaft immensen Ausmaßen, der alle Arten von Landschaften und Terrains um-
faßt). Hier gibt es sogar Drachen. Außerdem Greife, Hippogryphen, Basilisken und Hydras. Ansonsten leben im Feenland auch noch alle möglichen vertrauteren Tierarten, zutrauliche und hochnäsige Katzen, noble und feige Hunde, Wölfe und Füchse, Adler und Bären.
Mitten in einem großen, dichten Wald stand ein kleines Haus, mit Wänden aus Holz und Lehm, einem Strohdach und einer höchst ominösen Ausstrahlung.
Die Hütte bestand aus einem einzigen Raum. Neben einem verwitterten Krokodilskelett hingen geräucherte Fleischstücke und Würste von den Dachbalken. Ein Torffeuer qualmte in einem großen Kamin, und der Rauch entwich durch einen langen Schornstein. Auf den drei Betten – eines davon war groß und alt, die anderen beiden waren niedrige Rollbetten – lagen drei Decken.
In einer Ecke befand sich das Kochgeschirr, in einer anderen ein momentan leerer Holzkäfig. Die Fenster waren so schmutzig, daß man nicht hindurchsehen konnte; auch sonst war alles mit einer dicken öligen Staubschicht bedeckt.
Das einzig Saubere im Haus war ein Spiegel aus schwarzem Glas, der an der Wand lehnte und so groß war wie ein hochgewachsener Mann und so breit wie eine Kirchentür.
Das Haus gehörte drei alten Frauen. Sie schliefen abwechselnd in dem großen Bett, bereiteten abwechselnd das Abendessen, stellten abwechselnd Fallen für kleine Tiere auf und holten abwechselnd Wasser aus dem Brunnen hinter dem Haus.
Die drei Frauen sprachen kaum miteinander.
In dem kleinen Haus gab es aber noch drei andere Frauen. Sie waren schlank, dunkel und gut gelaunt. Die Halle, die sie bewohnten, war viel größer als die Hütte; der Boden bestand aus Onyx, die Pfeiler aus Obsidian. Dahinter erstreckte sich ein Hof unter freiem Himmel; vom Nachthimmel schimmerten die Sterne. Im Hof plätscherte ein Brunnen, und über die Statue einer Meerjungfrau sprudelte und hüpfte das Wasser. Aus ihrem weit offenen Mund ergoß sich reines schwarzes Wasser in den matt schimmernden Teich und brachte die Sterne, die sich dort spiegelten, zum Wanken.
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