Er bückte sich und sah noch einmal in den Schrank hinein. Wo sind sie? Er fürchtete schon, die Aes Sedai hätten sie weggeworfen, so wie seine Mutter, wenn sie sie jemals gefunden hätte. Wo...? Erleichterung überkam ihn. Ganz hinten, hinter seiner Zunderschachtel und der Fadenrolle für Fangschlingen und ähnlichem, lagen seine beiden ledernen Würfelbecher.
Sie rasselten, als er sie hervorzog, aber trotzdem öffnete er sicherheitshalber die engen Lederdeckel. Alles war so, wie es sein sollte. Fünf Würfel mit eingeschnitzten Symbolen für Kronen und fünf mit den üblichen Punkten darauf. Die waren geeignet für eine ganze Reihe von Spielen, aber noch mehr Männer schienen sich auf das Kronenspiel verlegt zu haben. Jedenfalls würden ihm diese Würfel helfen, aus seinen zwei Mark genug zu machen, um ihn weit weg von Tar Valon zu bringen. Weg sowohl von den Aes Sedai, wie auch von Selene.
Auf ein energisches Klopfen hin öffnete sich sofort die Tür. Er fuhr herum. Die Amyrlin und die Behüterin der Chronik traten ein. Er hätte sie auch ohne die breite, gestreifte Stola der Amyrlin und die schmalere, blaue der Behüterin erkannt. Er hatte sie nur ein einziges Mal zuvor gesehen, weit weg von Tar Valon, aber die beiden mächtigsten Frauen unter den Aes Sedai konnte er nicht vergessen.
Die Amyrlin zog die Augenbrauen hoch, als sie ihn so dastehen sah mit der Decke, die von seinen Schultern hing und seinem Geldbeutel sowie den beiden Würfelbechern in der Hand. »Ich glaube nicht, daß Ihr die in der nächsten Zeit schon gebrauchen könnt, mein Sohn«, sagte sie trocken. »Legt sie weg und geht ins Bett zurück, bevor Ihr umfallt.«
Er zögerte und machte ein steifes Kreuz, aber gerade in dem Moment begannen seine Knie nachzugeben, und außerdem blickten ihn die beiden Aes Sedai so an, dunkle Augen und blaue Augen, die jeden rebellischen Gedanken lesen zu können schienen... Na ja, also tat er, was man ihm gesagt hatte. Mit krampfhaft festgehaltener Decke legte er sich auf das Bett, steif ausgestreckt und unentschlossen, wie er sich verhalten solle.
»Wie fühlt Ihr Euch?« fragte die Amyrlin kurz angebunden, während sie eine Hand auf seine Stirn legte. Er bekam eine Gänsehaut. Hatte sie irgend etwas mit der Einen Macht angefangen oder lag es nur daran, daß er von einer Aes Sedai berührt wurde?
»Mir geht es gut«, berichtete er. »Also, ich bin bereit, meiner Wege zu gehen. Laßt mich nur Egwene und Nynaeve auf Wiedersehen sagen und Ihr habt mich los. Ich meine, ich werde gehen... äh, Mutter.« Moiraine und Verin hatte seine Sprache nicht viel ausgemacht, aber das hier war doch immerhin der Amyrlin-Sitz.
»Unsinn«, sagte die Amyrlin. Sie zog den Lehnstuhl näher ans Bett heran, setzte sich und sagte zu Leane: »Männer wollen wohl niemals zugeben, daß sie krank sind, bis sie so krank sind, daß sie den Frauen die doppelte Arbeit machen. Und dann behaupten sie viel zu früh, sie seien wieder gesund, natürlich mit dem gleichen Ergebnis.«
Die Behüterin sah Mat an und nickte. »Ja, Mutter, aber der hier kann nicht behaupten, er sei gesund, wenn er kaum aufstehen kann. Wenigstens hat er das Tablett leergegessen.«
»Ich wäre überrascht, wenn er genug Krümel übriggelassen hätte, daß sich ein Fink dafür interessieren könnte. Und er hat immer noch Hunger, wenn mich nicht alles täuscht.«
»Ich könnte ihm noch einen Auflauf bringen lassen, Mutter. Oder etwas Kuchen.«
»Nein, ich glaube, er hat soviel gegessen, wie es gerade möglich war. Wenn er sich erbrechen muß, hilft es ihm nicht.«
Mat blickte finster drein. Es schien ihm, wenn er krank war, sei er für Frauen praktisch unsichtbar, außer, sie redeten ihn direkt an. Und dann taten sie so, als sei er mindestens zehn Jahre jünger. Nynaeve, seine Mutter, seine Schwestern, die Amyrlin, alle verhielten sie sich gleich.
»Ich habe überhaupt keinen Hunger«, verkündete er. »Ich fühle mich gut. Wenn Ihr mich nur anziehen laßt, dann zeige ich Euch schon, wie gut es mir geht. Ich bin draußen, bevor Ihr euch umdrehen könnt.« Nun sahen ihn beide an. Er räusperte sich. »Äh... Mutter.«
Die Amyrlin schnaubte. »Ihr habt ein Mahl für fünf Leute gegessen und Ihr werdet noch tagelang solche Mahlzeiten verdrücken, sonst verhungert Ihr! Ihr seid gerade von einer Verbindung geheilt worden mit einem Verderben, das jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in Aridhol getötet hat und das auch nach zweitausend Jahren Warten nicht schwächer geworden ist, bis Ihr es auflesen mußtet. Es war dabei, Euch genauso sicher zu töten, wie es sie getötet hatte. Das ist nicht das gleiche, als hättet Ihr eine Fischgräte im Daumen stecken, Junge. Wir hätten Euch beinahe getötet beim Versuch, Euch zu retten!«
»Ich habe keinen Hunger.« Er bestand darauf. Sein Magen knurrte laut genug, um seine Worte Lügen zu strafen.
»Ich habe Euch schon beim ersten Zusammentreffen richtig eingeschätzt«, sagte die Amyrlin. »Ich wußte auch damals schon, daß Ihr wie ein aufgeschreckter Eisvogel durchgeht, wenn Ihr glaubt, jemand wolle Euch festhalten. Gut, daß ich meine Vorkehrungen getroffen habe.«
Er beäugte sie mißtrauisch. »Vorkehrungen?« Sie sahen ihm würdevoll in die Augen. Er hatte das Gefühl, sie steckten ihn mit ihren Blicken wie mit Nadeln am Bett fest.
»Euer Name und Eure Personenbeschreibung sind auf dem Weg zu den Brückenwächtern«, sagte die Amyrlin, »und zu den Wächtern an den Schiffsanlegestellen. Ich werde Euch nicht in der Burg festhalten, aber Tar Valon verlaßt Ihr nicht eher, als bis Ihr gesund seid. Solltet Ihr versuchen, Euch in der Stadt zu verstecken, wird Euch der Hunger schließlich wieder hierher treiben, und wenn nicht, finden wir Euch schon, bevor Ihr verhungert.«
»Warum wollt Ihr mich unbedingt hierbehalten?« wollte er wissen. Er hörte im Geist Selenes Stimme. Sie wollen Euch benützen. »Warum kümmert es Euch, ob ich verhungere oder nicht? Ich kann für mich selbst sorgen.«
Die Amyrlin lachte kurz auf, doch das Lachen klang nicht sehr amüsiert. »Mit zwei Silbermark und ein paar Kupfermünzen, mein Sohn? Ihr müßtet wirklich besonders viel Glück beim Würfeln haben, wenn Ihr damit all das Essen kaufen wolltet, das Ihr in den nächsten Tagen benötigt. Wir heilen nicht die Menschen, damit dann unsere Mühe umsonst war und sie sterben, obwohl sie noch pflegebedürftig sind. Und zudem könnte es sein, daß wir Euch noch weiter behandeln müssen.«
»Noch weiter? Ihr sagtet doch, ich sei geheilt. Warum sollte ich weitere Behandlung benötigen?«
»Mein Sohn, Ihr habt diesen Dolch monatelang getragen. Ich glaube, daß wir alle Spuren davon in Euch gefunden und beseitigt haben, aber sollten wir nur die kleinste übersehen haben, könnte sich das als tödlich erweisen. Und wer weiß, welche Wirkung es haben könnte, daß Ihr ihn so lange in Eurem Besitz hattet? In einem halben Jahr oder in einem Jahr wünscht Ihr euch vielleicht, es wäre eine Aes Sedai da, die Euch wieder heilt.«
»Ihr wollt, daß ich ein Jahr lang hierbleibe?« Er sagte das ungläubig und sehr laut. Leane verlagerte ihr Gewicht auf den anderen Fuß und sah ihn scharf an, doch die Gesichtszüge der Amyrlin blieben ruhig und gelassen.
»Vielleicht nicht ganz so lang, mein Sohn. Aber lang genug jedenfalls, bis wir sicher sein können. Das wollt Ihr doch wohl auch. Würdet Ihr in einem Schiff lossegeln, wenn Ihr nicht einmal wißt, ob es dicht ist oder ob vielleicht Planken angefault sind?«
»Ich habe noch nie was mit Schiffen zu tun gehabt«, brummte Mat. Es mochte ja stimmen. Die Aes Sedai logen nie, aber es enthielt für seinen Geschmack zu viele Ungewißheiten. »Ich bin schon eine lange Zeit von zu Hause weg, Mutter. Mein Pa und meine Mutter glauben vielleicht, ich sei tot.«
»Wenn Ihr ihnen einen Brief schreiben wollt, sorge ich dafür, daß er nach Emondsfeld gebracht wird.«
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