Die Aes Sedai blinzelte sie wieder an und vertrieb mit einem Kopfschütteln den Gedanken, der ihr wohl dabei gekommen war. »Diese Liste, die ich Euch gab, könnte wichtig sein, aber vielleicht ist sie auch nur Papierverschwendung. Jedenfalls ist sie nicht der einzige Grund, daß ich Euch herkommen ließ.« Sie begann, die Sachen auf dem Tisch herumzuschieben und zu einigen äußerst wackligen Haufen aufzustapeln, um etwas Platz freizumachen. »Ich hörte von Anaiya, daß Ihr eines Tages vielleicht zu den Träumern gehören körntet. Die letzte war Corianin Nedeal vor vierhundertdreiundsiebzig Jahren, und nach den Unterlagen zu schließen, verdiente sie die Bezeichnung eigentlich kaum. Es wäre sehr interessant, wenn Ihr euch so entwickelt.«
»Sie hat mich überprüft, Verin Sedai, aber sie war nicht sicher, ob irgendeiner meiner Träume etwas über die Zukunft vorhersagte.«
»Das ist nur ein Teil dessen, was einen Träumer ausmacht, Kind. Vielleicht sogar der unwichtigste Teil. Meiner Meinung nach treibt Anaiya das viel zu langsam voran. Schaut her.« Mit einem Finger zog Verin einige parallel verlaufende Linien in den Staub auf dem Tisch, wo sie die Fläche freigemacht hatte. »Das sollen Welten sein, die existieren könnten, falls manche Entscheidungen anders ausgefallen wären, falls bedeutende Wendepunkte im Muster sich geändert hätten.«
»Die Welten, die man von den Portalsteinen aus erreichen kann«, sagte Egwene, um zu beweisen, daß sie Verins Ausführungen auf dem Weg von der TomanHalbinsel hierher gelauscht hatte. Was sollte das aber damit zu tun haben, ob sie nun zu den Träumern zählte oder nicht?
»Sehr gut. Aber das Muster ist vielleicht noch viel komplizierter als dies, Kind. Das Rad verwebt unsere Leben und bildet damit das Muster eines Zeitalters, doch die Zeitalter selbst sind wiederum in das Gewebe der Zeitalter, also in das Große Muster, verwebt. Und wer weiß denn schon, ob das überhaupt auch nur der zehnte Teil all dieser Gewebe ist? Im Zeitalter der Legenden glaubten einige, daß es noch weitere Welten gibt, die aber schwerer zu erreichen sind als diejenigen hinter den Portalsteinen — kaum glaubhaft —, und daß sie so liegen.« Sie zog weitere Linien, die die anderen schnitten. Einen Augenblick lang betrachtete sie das Ergebnis. »Kette und Schuß des Gewebes. Vielleicht webt das Rad der Zeit noch ein viel größeres Muster aus ganzen Welten.« Sie richtete sich auf und klopfte sich den Staub von den Händen. »Nun ja, das ist weder hier noch dort. Auf all diesen Welten, gleich wie unterschiedlich sie sein mögen, sind ein paar Dinge die gleichen. Eines davon ist, daß in allen der Dunkle König gefangengehalten wird.«
Unwillkürlich trat Egwene näher heran und sah die von Verin gezogenen Linien genau an. »In allen? Wie kann das sein? Wollt Ihr damit sagen, daß es auf allen Welten einen Vater der Lügen gibt?« Der Gedanke an so viele Dunkle Könige ließ sie schaudern.
»Nein, Kind. Es gibt einen Schöpfer, der auf allen diesen Welten gleichzeitig existiert. Genauso gibt es auch nur einen Dunklen König, der gleichzeitig auf all diesen Welten existiert. Wenn er auf einer Welt aus dem Gefängnis befreit wird, das der Schöpfer für ihn gemacht hat, dann wird er auf allen Welten befreit. Solange er auf einer davon gefangen ist, bleibt er auf allen gefangen.«
»Das scheint mir keinen Sinn zu ergeben«, wandte Egwene ein.
»Paradox, Kind. Der Dunkle König ist die Verkörperung des Paradoxen und des Chaos, der Zerstörer von Vernunft und Logik, der Störer allen Gleichgewichts, der Hinderer aller Ordnung.«
Die Eule flog mit einem Mal lautlos hoch und landete auf einem großen, weißen Schädel, der auf einem Regal hinter der Aes Sedai lag. Sie spähte blinzelnd auf die beiden Frauen herab. Egwene hatte schon bei ihrem Eintreten diesen Schädel bemerkt. Gekrümmte Hörner und eine vorgeschobene Schnauze hatten sie an einen Hammel erinnert, nur wußte sie keine Art, die einen so großen Kopf hatte. Nun fielen ihr auf die abgerundete Form des Schädels auf und die hohe Stirn. Das war kein Hammelschädel. Es war der eines Trollocs.
Sie atmete zittrig ein. »Verin Sedai, was hat das alles mit den Träumern zu tun? Der Dunkle König ist im Shayol Ghul gefangen, und ich will noch nicht einmal daran denken, daß er entkommen könnte.« Aber die Siegel an seinem Gefängnis werden brüchig. Selbst die Novizinnen wissen das mittlerweile. »Was es mit den Träumern zu tun hat? Nun ja, eigentlich nichts, Kind. Außer, daß wir uns alle auf die eine oder andere Art dem Dunklen König stellen müssen. Er ist jetzt noch gefangen, aber das Muster hat Rand al'Thor nicht umsonst in die Welt gesetzt. Der Wiedergeborene Drache muß den Herrn des Grabes bekämpfen, soviel ist klar. Falls Rand solange überlebt. Der Dunkle König wird versuchen, das Muster soweit wie möglich zu verzerren. Also, jetzt sind wir aber zu weit vom Thema abgekommen, ja?«
»Vergebt mir, Verin Sedai, aber wenn dies hier« — Egwene deutete auf die Linien im Staub — »nichts mit den Träumern zu tun hat, warum erzählt Ihr mir dann davon?«
Verin sah sie an, als stelle sie sich absichtlich dumm. »Nichts? Natürlich hat es etwas damit zu tun, Kind. Der springende Punkt ist, daß es neben dem Schöpfer und dem Dunklen König noch eine dritte Konstante gibt. Es gibt eine Welt, die innerhalb all dieser anderen liegt, innerhalb aller gleichzeitig! Oder vielleicht umgibt sie die anderen. Schreiber aus dem Zeitalter der Legenden nannten sie Tel'aran'rhiod, die ›Unsichtbare Welt‹. Vielleicht wäre ›die Welt der Träume‹ eine bessere Übersetzung. Viele Menschen, auch ganz gewöhnliche, die nicht die Macht lenken können, sehen manchmal Tel'aran'rhiod im Traum und können gelegentlich sogar die anderen Welten hindurchschimmern sehen. Denkt an einige der eigenartigen Dinge, die Ihr in Euren Träumen schon gesehen habt. Aber ein Träumer, Kind — ein wirklicher Träumer — kann Tel'aran'rhiod betreten!«
Egwene versuchte, zu schlucken, aber sie hatte einen Kloß im Hals. Sie betreten? »Ich... ich glaube nicht, daß ich zu den Träumern gehöre, Verin Sedai. Anaiya Sedais Überprüfungen... «
Verin unterbrach sie: »... beweisen nichts, weder das eine noch das andere. Und Anaiya glaubt immer noch, daß Ihr wahrscheinlich dazugehört.«
»Ich nehme an, ich werde es irgendwann einmal herausfinden«, murmelte Egwene. Licht, ich will doch dazugehören, oder? Ich will lernen! Ich will alles!
»Ihr habt keine Zeit mehr, um lange zu warten, Kind. Die Amyrlin hat Euch und Nynaeve eine große Aufgabe anvertraut. Ihr müßt jedes Werkzeug benützen, das Ihr nur erreichen könnt.« Verin holte aus dem Durcheinander auf ihrem Tisch einen roten Holzkasten hervor. Er war groß genug, um darin ungefaltet Papiere aufzubewahren, aber als die Aes Sedai den Deckel einen Spalt breit öffnete, zog sie lediglich einen aus Stein gefertigten Ring hervor. Er wies viele Flecken und blaue, braune und rote Streifen auf, und er war zu groß für einen Fingerring. »Hier, Kind.«
Egwene legte die Papiere zur Seite, um ihn entgegenzunehmen, und dann machte sie große Augen vor Überraschung. Der Ring sah nur wie aus Stein gefertigt aus, war aber härter als Stahl und schwerer als Blei. Und der Reif war verdreht. Wenn sie mit einem Finger an einer Kante entlangfuhr, beschrieb ihr Finger zwei volle Umdrehungen, innen wie außen. Der Ring hatte nur eine Kante. Sie probierte es gleich zweimal, um sich davon zu überzeugen.
»Corianin Nedeal«, sagte Verin, »besaß diesen TerAngreal fast ihr ganzes Leben über. Jetzt bleibt er bei Euch.«
Egwene ließ den Ring beinahe fallen. Ein Ter'Angreal? Ich soll einen Ter'Angreal bekommen?
Verin schien ihr Erschrecken nicht zu bemerken. »Nach ihren Aussagen erleichtert es den Eintritt in Tel'aran'rhiod. Sie behauptete, es funktioniere sowohl bei jenen ohne unser Talent, wie auch bei Aes Sedai, solange Ihr ihn im Schlaf berührt. Es gibt natürlich auch Gefahren. Tel'aran'rhiod ist nicht so wie andere Träume. Was dort geschieht, ist Wirklichkeit. Ihr seid wirklich dort, statt diese Welt nur kurz sehen zu können.« Sie schob den Ärmel ihres Kleides zurück und enthüllte eine verblaßte Narbe, so lang wie ihr Unterarm. »Ich habe es selbst vor Jahren einmal ausprobiert. Anaiyas Heilkunst hat nicht ganz erreicht, was ich mir wünschte. Denkt daran.« Die Aes Sedai zog den Ärmel wieder über die Narbe.
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