Egwene suchte nach einer Antwort, die die Aes Sedai zufriedenstellen würde. Man sagte, daß Elaida manchmal eine Lüge heraushören könne. »Es... es hat mit Mat zu tun. Er ist sehr krank.« Sie bemühte sich, ihre Worte sorgfältig zu wählen, um keine Unwahrheit zu sagen und dabei doch einen Eindruck zu erwecken, der weit von der Wahrheit entfernt war. Die Aes Sedai machen das schließlich immer so. »Wir gingen nach... Wir brachten ihn her, damit er hier geheilt wird. Sonst wäre er gestorben. Die Amyrlin wird ihn heilen.« Hoffe ich wenigstens. Sie zwang sich dazu, der Roten Aes Sedai weiterhin in die Augen zu sehen und nicht nervös von einem Fuß auf den anderen zu treten. Aus Elaidas Gesicht konnte man nicht ablesen, ob sie ihr auch nur ein Wort glaubte.
»Das genügt, Egwene«, sagte Nynaeve. Elaidas durchdringender Blick traf nun sie, doch sie zeigte sich davon offensichtlich unbeeindruckt. Sie sah die Aes Sedai an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Vergebt mir die Unterbrechung, Elaida Sedai«, sagte sie verbindlich, »aber die Amyrlin sagte, daß unsere Übertretungen hinter uns lägen und vergessen würden. Damit wir noch einmal von vorn beginnen können, sollen wir nicht mehr darüber sprechen, was hinter uns liegt. Die Amyrlin meinte, es solle sein, als sei es niemals geschehen.«
»Tatsächlich — hat sie das gesagt?« Immer noch sagte nichts an Elaidas Stimme oder ihrem Gesichtsausdruck, ob sie ihnen glaubte oder nicht. »Interessant. Ihr könnt es wohl kaum ganz vergessen, wenn eure Bestrafung mittlerweile der ganzen Burg mitgeteilt wurde. So etwas ist ohne Beispiel. Noch nie wurde jemand so bestraft, wenn eigentlich eine Dämpfung fällig wäre. Mir ist klar, warum ihr das alles hinter euch bringen wollt. Ich höre, ihr sollt zu Aufgenommenen erhoben werden, Elayne und Egwene. Das kann man kaum Strafe nennen.«
Elayne sah die Aes Sedai an, als warte sie auf die Erlaubnis zu sprechen. »Die Mutter meinte, wir seien soweit«, sagte sie. In ihre Stimme schlich sich ein wenig Trotz ein. »Ich habe gelernt, Elaida Sedai, und bin gewachsen. Sie hätte mir das wohl kaum gesagt, wenn dem nicht so wäre.«
»Gelernt«, sagte Elaida nachdenklich. »Und gewachsen.
Vielleicht habt Ihr recht.« Ihrer Stimme war nicht anzuhören, ob sie das für gut befand oder nicht. Ihr Blick wanderte zu Egwene und Nynaeve zurück. Sie musterte die beiden forschend. »Ihr seid mit Mat zurückgekommen, einem Jüngling aus eurem Dorf. Da war doch noch ein weiterer junger Mann aus eurem Dorf: Rand al'Thor.«
Egwene hatte das Gefühl, daß eine eiskalte Hand nach ihrem Herz griff.
»Ich hoffe, es geht ihm gut«, sagte Nynaeve gleichmütig, doch hatte sie ihre Hand zur Faust geballt, in der das Ende ihres Zopfes lag. »Wir haben ihn schon eine Weile lang nicht mehr gesehen.«
»Ein interessanter junger Mann.« Elaida sah sie beim Sprechen unverwandt an. »Ich habe ihn nur einmal getroffen, aber ich fand ihn — äußerst interessant. Ich glaube, er muß ta'veren sein. Ja. Die Antworten auf viele Fragen liegen möglicherweise in seiner Person. Euer Emondsfeld muß ein ungewöhnlicher Ort sein, der zwei von euch hervorbringt und Rand al'Thor.«
»Es ist nur ein Dorf«, sagte Nynaeve. »Nur ein Dorf wie jedes andere.«
»Ja. Natürlich.« Elaida lächelte. Es war mehr ein kaltes Lippenzucken, das Egwene den Magen herumdrehte. »Erzählt mir von ihm. Die Amyrlin hat euch doch nicht befohlen, auch über ihn Schweigen zu bewahren, oder?«
Nynaeve zog an ihrem Zopf. Elayne betrachtete den Teppich, als liege in seinem Muster etwas Wichtiges verborgen, und Egwene zermarterte sich das Hirn, um eine geschickte Antwort zu finden. Man sagt, sie könne Lügen heraushören. Licht, falls sie das wirklich kann... Der Augenblick zog sich in die Länge, bis Nynaeve endlich den Mund aufmachte.
In diesem Moment öffnete sich die Tür wieder.
Sheriam sah sie überrascht an. »Es ist gut, daß ich Euch hier vorfinde, Elayne. Ich brauche euch alle drei. Ich hatte Euch hier nicht erwartet, Elaida.«
Elaida stand auf und rückte ihre Stola zurecht. »Wir sind alle neugierig dieser Mädchen wegen. Warum sie weggelaufen sind. Was sie erlebt haben während ihrer Abwesenheit. Sie sagen, die Mutter habe ihnen befohlen, darüber zu schweigen.«
»Das ist auch gut so«, sagte Sheriam. »Sie werden bestraft und damit Schluß. Ich war immer der Meinung, daß mit dem Abbüßen einer Strafe der Grund dafür vergessen werden sollte.«
Einen Augenblick lang sahen sich die beiden Aes Sedai an, und auf keinem der beiden Gesichter zeigte sich irgendein Ausdruck. Dann sagte Elaida: »Sicher. Vielleicht spreche ich ein andermal wieder mit ihnen. Über andere Dinge.« In dem Blick, den sie den drei Frauen in Weiß zuwarf, schien Egwene eine Warnung zu liegen. Dann drückte sie sich an Sheriam vorbei.
Die Herrin der Novizinnen hielt die Tür auf und sah der anderen Aes Sedai nach, wie sie die Galerie entlangschritt. Ihr Gesicht war nach wie vor ausdruckslos.
Egwene atmete tief aus und nahm Gleiches von Nynaeve und Elayne wahr.
»Sie drohte mir«, sagte Elayne ungläubig und mehr in sich selbst hinein. »Sie drohte mir mit einer Dämpfung, wenn ich weiter so... eigensinnig bin!«
»Ihr habt sie mißverstanden«, sagte Sheriam. »Wenn Eigensinn zu einer Dämpfung führen müßte, dann wäre die Liste der Betroffenen so lang, daß ihr sie nicht mehr auswendig lernen könntet. Nur wenige folgsame Frauen bekommen jemals den Ring und die Stola. Das heißt aber nicht, daß ihr nicht lernen müßt, folgsam und demütig zu sein, wenn die Situation es von euch verlangt.«
»Ja, Sheriam Sedai«, sagten die drei wie aus einem Munde, und Sheriam lächelte. »Seht ihr? Zumindest könnt ihr euch demütig und folgsam geben. Und ihr werdet genügend Gelegenheiten bekommen, euch darin zu üben, bis ihr bei der Amyrlin wieder in Gnade seid. Und in meiner. Bei mir wird das noch schwerer werden.«
»Ja, Sheriam Sedai«, sagte Egwene, doch diesmal schloß sich nur Elayne ihr an.
Nynaeve sagte: »Was ist mit... dem Körper, Sheriam Sedai? Dieses... des Seelenlosen? Habt Ihr herausbekommen, wer ihn tötete? Oder warum er die Burg betrat?«
Sheriam verzog den Mund. »Ihr tretet einen Schritt vor, Nynaeve, und dann wieder einen zurück. Aus der fehlenden Überraschung bei Elayne schließe ich, daß Ihr es ihr offensichtlich erzählt habt — obwohl ich Euch verboten hatte, darüber zu sprechen! —, und damit wissen nun genau sieben Personen in der Burg davon, daß heute ein Mann in den Quartieren der Novizinnen getötet wurde. Zwei davon sind Männer, die nicht mehr als eben das wissen. Und, daß sie den Mund zu halten haben. Wenn ein Befehl der Herrin aller Novizinnen bei euch nichts zählt — nun, ich werde dafür sorgen, daß sich das ändert —, gehorcht ihr vielleicht wenigstens der Amyrlin. Ihr dürft mit niemandem darüber sprechen außer der Amyrlin und mir. Die Amyrlin wünscht keine neuen Gerüchte neben denen, mit denen wir uns bereits abfinden müssen. Ist das klar?«
Die Härte in ihrer Stimme löste ein dreifaches »Ja, Sheriam Sedai« aus, doch Nynaeve ließ es damit nicht bewenden. »Sieben, sagtet Ihr, Sheriam Sedai. Plus den, der ihn tötete. Und vielleicht hatten sie noch Helfer, um in die Burg zu gelangen.«
»Das muß euch nicht interessieren.« Sheriams ruhiger Blick umfaßte alle drei. »Ich werde alle Fragen stellen, die dieses Mannes wegen gestellt werden müssen. Ihr werdet derweil vergessen, daß ihr von diesem toten Mann wißt. Falls ich bemerke, daß ihr meinem Befehl zuwiderhandelt... Also, es gibt noch Schlimmeres, als Töpfe auszukratzen, um eure Aufmerksamkeit zu binden. Und ich nehme keine Entschuldigungen an. Höre ich noch mehr Fragen?«
»Nein, Sheriam Sedai.« Diesmal schloß sich zu Egwenes Beruhigung auch Nynaeve an. Nicht, daß sie besonders erleichtert war. Sheriams Überwachung würde ihre Suche nach Schwarzen Ajah noch schwieriger gestalten. Einen Augenblick lang hatte sie das Bedürfnis, hysterisch zu lachen. Wenn uns die Schwarzen Ajah nicht erwischen, dann erwischt uns Sheriam. Der Wunsch, zu lachen, verflüchtigte sich. Falls Sheriam nicht selbst eine Schwarze Ajah ist. Sie hätte diesen Gedanken am liebsten gleich wieder verdrängt.
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