Ich komme, dachte Mat, als er hinter dem Diebfänger herrannte. Ich hole euch raus, oder ich sterbe! Das verspreche ich Euch!
Die Gongschläge des Alarms dröhnten durch den Stein, aber Rand achtete genausowenig darauf wie vorher auf das Krachen, das ihn wie gedämpfter Donner von irgendwo unten erreicht hatte. Seine Seite schmerzte. Es war die alte Wunde, die so brannte. Sie war bei der Kletterei die Steilwand der Festung hoch beinahe wieder aufgeplatzt. Doch er achtete auch nicht auf den Schmerz. Ein schiefes Lächeln war auf seinem Gesicht festgefroren, ein erwartungsvolles Lächeln, aber auch von Grauen erfüllt. Selbst wenn er wollte, hätte er es nicht mehr aus seinem Gesicht verbannen können. Es war jetzt ganz nahe. Das Ziel seiner Träume: Callandor.
Ich werde es endlich zu Ende bringen. So oder so wird es zu Ende sein. Die Träume beendet. Die Köder, die Herausforderungen, die Jagd. Das werde ich nun alles beenden!
Er lachte in sich hinein und eilte durch die dunklen Gänge des Steins von Tear.
Egwene berührte mit einer Hand ihr Gesicht und verzog es vor Schmerzen. In ihrem Mund hatte sie einen bitteren Geschmack, und sie war durstig. Rand? Was? Warum habe ich wieder von Mat geträumt und dazwischen von Rand, und jemand rief, er komme? Was?
Sie öffnete die Augen, starrte die grauen Steinwände an, an denen nur eine qualmende Fackel hing, die flackernde Schatten auf die Wände warf, und dann schrie sie, als ihre Erinnerungen zurückkehrten. »Nein! Ich lasse mich nicht wieder anketten! Ich lasse mir kein Halsband anlegen! Nein!«
Einen Augenblick später waren Nynaeve und Elayne an ihrer Seite. Ihre zerschrammten Gesichter waren allerdings zu besorgt und verängstigt, als daß man den beruhigenden Lauten, die sie von sich gaben, viel Glauben hätte schenken können. Doch allein die Tatsache, daß sie bei ihr waren, reichten, um ihre Schreie verklingen zu lassen. Sie war nicht allein. Gefangen, aber nicht allein. Und ohne Halsband.
Sie versuchte, sich aufzusetzen, und die anderen waren ihr behilflich. Sie mußten ihr helfen, denn ihr tat jeder Muskel im Körper weh. Sie erinnerte sich an jeden dieser unsichtbaren Schläge, die sie beinahe zum Wahnsinn getrieben hatten, als ihr klar wurde... Ich werde nicht daran denken. Ich muß überlegen, wie wir hier wieder herauskommen. Sie rutschte ein Stück nach hinten, bis sie sich an die Wand lehnen konnte. Schmerz und Erschöpfung kämpften in ihr. Dieser Kampf, in dem sie absolut nicht nachgeben wollte, hatte sie jedes bißchen ihrer Kraft gekostet, und die blauen Flecken und Schwellungen schienen ihr noch mehr davon zu rauben.
Die Zelle war bis auf sie und die Fackel völlig leer. Der Fußboden war blank und kalt und hart. Die einzige Öffnung in den Wänden war eine aus dicken, rauhen Brettern gezimmerte Tür. Die Bretter hatten abgesplitterte Kanten, als hätten unzählige Finger umsonst daran gerissen. In den Stein der Wände waren Botschaften eingeritzt, meist sehr unsicher und krakelig. Einmal stand da: ›Licht sei mir gnädig und laß mich sterben.‹ Sie verdrängte das sofort wieder aus ihrem Bewußtsein.
»Sind wir immer noch abgeschirmt?« brachte sie zwischen wunden Lippen hervor. Selbst das Sprechen tat weh. In dem Moment, als Elayne nickte, wurde ihr klar, daß sie gar nicht hätte fragen brauchen. Die angeschwollene Wange, die geplatzte Lippe und das blaue Auge der goldhaarigen Frau waren Antwort genug, ganz abgesehen von ihren eigenen Schmerzen. Wenn Nynaeve in der Lage gewesen wäre, Kraft aus der Wahren Quelle zu ziehen, hätte sie natürlich die anderen sofort geheilt.
»Ich habe es versucht«, sagte Nynaeve resignierend. »Ich habe es immer und immer wieder versucht.« Sie riß hart an ihrem Zopf, und trotz der hoffnungslosen Furcht in ihrer Stimme kam auch wieder etwas Zorn durch. »Eine von denen sitzt draußen. Amico, diese milchgesichtige Schlampe, falls sie die Wache nicht ausgetauscht haben, seit wir hier drinnen sind. Ich denke, eine reicht, um die Abschirmung aufrecht zu erhalten, sobald sie einmal fest gewoben wurde.« Sie lachte bitter. »Und trotz all der Mühe, die sie sich gaben, und der Schmerzen, die sie uns zufügten, könnte man jetzt glauben, wir seien völlig unwichtig. Es ist schon Stunden her, daß sie die Tür hinter uns zuschlugen, und seitdem ist niemand gekommen, um uns zu befragen oder nachzusehen oder wenigstens einen Tropfen Wasser zu bringen. Vielleicht wollen sie uns hierlassen, bis wir verdurstet sind.«
»Köder.« Elaynes Stimme schwankte, obwohl sie sich ganz offensichtlich bemühte, ihre Angst nicht zu zeigen. Und wie schlecht sie sich fühlte. »Liandrin sagte, wir seien ein Köder.«
»Für wen denn?« fragte Nynaeve mit ebenfalls zittriger Stimme. »Für wen sollen wir als Köder herhalten? Wenn ich ein Köder sein soll, möchte ich mich am liebsten denen in den Hals schieben, bis sie an mir ersticken.«
»Rand.« Egwene mußte erst einmal schlucken. Selbst ein einziger Tropfen Wasser hätte ihr schon gut getan. »Ich habe von Rand geträumt und von Callandor. Ich glaube, er kommt hierher.« Aber warum habe ich von Mat geträumt? Und Perrin? Es war wohl ein Wolf, aber ich bin sicher, daß dahinter Perrin steckte. »Habt nicht soviel Angst«, sagte sie im Bemühen, sicher zu erscheinen. »Wir entkommen ihnen schon irgendwie. Wenn wir mit den Seanchan fertig wurden, dann werden wir auch mit Liandrin fertig.«
Nynaeve und Elayne tauschten über ihr einen Blick. Dann sagte Nynaeve: »Liandrin sagte, daß dreizehn Myrddraal kämen, Egwene.«
Sie ertappte sich dabei, daß sie wieder diese Botschaft an der Wand anblickte: ›Licht sei mir gnädig und laß mich sterben.‹ Ihre Hände verkrampften sich zu Fäusten. Ihr Kiefer schmerzte, so heftig biß sie die Zähne aufeinander, um die Worte nicht herauszuschreien. Lieber sterben! Lieber der Tod, als zum Schatten bekehrt zu werden und dem Dunklen König zu dienen!
Ihr wurde bewußt, daß sich ihre eine Hand um den Beutel an ihrem Gürtel geschlossen hatte. Sie fühlte die beiden Ringe darin, den kleineren mit der Großen Schlange und den größeren verdrehten Steinring.
»Sie haben mir den Ter'Angreal nicht abgenommen«, sagte sie erstaunt. Sie zog ihn aus dem Beutel. Er lag schwer auf ihrer Handfläche mit all seinen Streifen und Farbflecken — ein Ring mit einer einzigen Oberfläche.
»Wir waren noch nicht einmal wichtig genug, uns zu durchsuchen«, seufzte Elayne. »Egwene, bist du sicher, daß Rand hierherkommt? Ich würde uns viel lieber selbst befreien, als darauf zu warten, daß er es tut, aber wenn es überhaupt jemanden gibt, der Liandrin und die anderen besiegt, dann eben nur ihn. Der Wiedergeborene Drache ist dazu bestimmt, Callandor zu führen. Er muß einfach in der Lage sein, mit ihnen fertigzuwerden.«
»Nicht, wenn wir ihn auch noch unfreiwillig in solch einen Käfig locken«, knurrte Nynaeve. »Nicht, wenn sie für ihn eine Falle aufgebaut haben, die er nicht sieht. Warum starrst du diesen Ring so an, Egwene? Tel'aran'rhiod kann uns jetzt nicht helfen. Außer, du träumst uns einen Weg hier heraus.«
»Vielleicht kann ich das«, sagte sie bedächtig. »In Tel'aran'rhiod konnte ich die Macht benützen. Und ihre Abschirmung wird mich nicht daran hindern, es zu erreichen. Alles, was ich tun muß, ist, zu schlafen, aber nicht, die Macht hier zu benützen. Und ich bin ganz sicher müde genug, um einzuschlafen.«
Elayne runzelte die Stirn und zog scharf die Luft ein, doch selbst diese Bewegung schmerzte. »Ich will ja gerne alles tun, aber wie kannst du selbst in einem Traum die Macht gebrauchen, obwohl du von der Wahren Quelle abgeschnitten bist? Und falls doch, wie kann uns das dann hier helfen?«
»Ich weiß es nicht, Elayne. Doch nur, weil ich hier abgeschirmt bin, muß ich in der Welt der Träume noch lange nicht abgeschirmt sein. Es ist zumindest einen Versuch wert.«
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