»Was macht Ihr hier?« fragte die Männerstimme. Wegen ihres Schleiers war sich Mat nicht ganz sicher, wer gerade gesprochen hatte. Die Stimme klang älter, selbstbewußt, befehlsgewohnt. Er glaubte nun wenigstens die Frau genauer erkennen zu können. Sie war als einzige kleiner als er, aber nicht viel. Die anderen waren alle mindestens einen Kopf größer. Verfluchte Aiel, dachte er. »Wir haben Euch eine Weile beobachtet«, fuhr der ältere Mann fort, »wie Ihr wiederum den Stein beobachtet habt. Ihr habt ihn von allen Seiten genau studiert. Warum?«
»Das gleich könnte ich Euch alle fragen«, sagte eine andere Stimme. Mat war der einzige, der zusammenzuckte, als ein Mann in Pumphosen aus den Schatten trat. Der Bursche schien barfuß zu sein, wohl um auf den Dachziegeln einen besseren Halt zu finden. »Ich hatte erwartet, Diebe anzutreffen und keine Aiel«, fuhr der Mann fort, »aber glaubt nicht, daß ich Eurer Anzahl wegen Angst habe.« Ein schmaler Stock, nicht länger, als der Mann groß war, wirbelte und summte durch die Luft. »Ich heiße Juilin Sandar und bin Diebfänger, und ich will wissen, warum Ihr euch auf den Dächern befindet und den Stein anstarrt.«
Mat schüttelte den Kopf. Verflucht, wie viele Leute sind denn heute nacht noch auf den Dächern? Alles, was jetzt noch nötig war, war das Auftreten Thoms mit seiner Harfe, oder irgend jemandes, der sie nach dem Weg zu einer Schenke fragte. Ein verfluchter Diebfänger! Er fragte sich, warum die Aiel einfach nur herumstanden.
»Ihr schleicht Euch für einen Stadtbewohner recht gut an«, sagte die Stimme des älteren Mannes. »Aber warum folgt Ihr uns? Wir haben nichts gestohlen. Warum habt Ihr heute nacht selbst so oft den Stein angesehen?«
Selbst im Mondschein konnte man Sandars offensichtliche Überraschung sehen. Er zuckte kurz, öffnete den Mund — und schloß ihn dann wieder, als sich vier weitere Aiel aus der Dunkelheit hinter ihm erhoben. Seufzend lehnte er sich auf seinen dünnen Stock. »Mir scheint, ich habe mich selbst gefangen«, knurrte er. »Mir scheint, nun muß ich Eure Fragen beantworten.« Er spähte zum Stein hinüber und schüttelte den Kopf. »Ich... habe heute etwas getan... das mich beunruhigt.« Es klang beinahe, als führe er ein Selbstgespräch und bemühe sich, etwas herauszufinden. »Ein Teil von mir sagt, es sei richtig gewesen, was ich tat, und ich müsse gehorchen. Sicherlich erschien es mir richtig, als ich es tat. Aber eine kleine Stimme sagt mir... daß ich etwas verraten habe. Ich bin sicher, daß diese Stimme sich täuscht, und sie ist sehr dünn, aber sie gibt nicht auf.« Er schwieg und schüttelte wieder den Kopf.
Einer der Aiel nickte und sprach mit der Stimme des älteren Mannes: »Ich bin Rhuarc von der Neun-TälerSeptime der Taardad Aiel, und einst war ich Aethan Dor, ein Angehöriger der Rotschilde. Manchmal übernehmen die Rotschilde die gleichen Aufgaben wie Eure Diebfänger. Ich erkläre Euch das, damit Ihr wißt, daß ich verstehe, was Ihr tut und welche Art von Mann Ihr seid. Ich will Euch nichts antun, Juilin Sandar von den Diebfängern, und auch nicht den Menschen in Eurer Stadt, aber ich kann nicht zulassen, daß Ihr einen Alarm auslöst. Wenn Ihr schweigt, lebt Ihr weiter, wenn nicht, dann nicht.«
»Ihr habt also keine bösen Absichten der Stadt gegenüber«, sagte Sandar bedächtig. »Warum seid Ihr dann hier?«
»Der Stein.« Aus Rhuarcs Tonfall konnte man entnehmen, daß er nichts weiter zu sagen gewillt war.
Nach einem Augenblick des Nachdenkens nickte Sandar und grollte leise: »Ich wünschte beinahe, Ihr hättet die Macht, den Stein zu nehmen, Rhuarc. Ich werde den Mund halten.«
Rhuarc wandte nun Mat sein verschleiertes Gesicht zu. »Und Ihr, namenloser Jüngling? Werdet Ihr mir nun sagen, warum Ihr den Stein so genau beobachtet?«
»Ich wollte nur einen Mondscheinspaziergang machen«, sagte Mat leichthin. Die junge Frau preßte ihm sofort die Speerspitze wieder an die Kehle. Er bemühte sich, nicht zu schlucken. Na ja, vielleicht kann ich ihnen doch etwas sagen. Er durfte sie aber nicht wissen lassen, daß er Angst hatte. Wenn der Gegner das wußte, verlor man jeden Vorteil, den man möglicherweise noch hatte. Sehr vorsichtig schob er mit zwei Fingern die Speerspitze von seinem Hals weg. Es schien ihm, daß sie leise lachte. »Ein paar Freunde von mir befinden sich im Stein«, sagte er und bemühte sich, das Ganze nebensächlich klingen zu lassen. »Gefangene. Ich habe vor, sie herauszuholen.«
»Allein, Namenloser?« fragte Rhuarc.
»Na ja, es scheint ja wohl sonst niemand dazusein«, sagte Mat trocken. »Oder wollt Ihr mir helfen? Ihr scheint doch selbst genug Interesse am Stein zu haben. Wenn Ihr hineinwollt, könnten wir vielleicht zusammen gehen. Wie man es auch anschaut, die Würfel werden entscheiden, und ich habe eine Glückssträhne.« Jedenfalls bisher. Ich habe schwarzverschleierte Aiel getroffen und sie haben mir nicht die Kehle durchgeschnitten. Viel besser kann es doch nicht kommen. Seng mich, es wäre nicht gerade übel, da drinnen ein paar Aiel dabeizuhaben. »Euch könnte schlimmeres passieren, als auf mein Glück zu setzen.«
»Wir sind nicht Gefangener wegen hier, Spieler«, sagte Rhuarc.
»Es wird Zeit, Rhuarc.« Mat wußte nicht, welcher der Aiel gesprochen hatte, aber Rhuarc nickte.
»Ja, Gaul.« Er blickte erst Mat und dann Sandar und wiederum Mat an. »Löst keinen Alarm aus.« Er wandte sich um, und nach zwei Schritten hatte ihn die Nacht verschluckt.
Mat fuhr zusammen. Auch die anderen Aiel waren weg und hatten ihn mit diesem Diebfänger alleingelassen. Oder haben sie jemand hiergelassen, uns zu beobachten? Seng mich, wie könnte ich das wissen, wenn es so wäre? »Ich hoffe, Ihr wollt mich doch wohl nicht auch aufhalten, oder?« sagte er zu Sandar, als er sich das Bündel mit den Feuerwerkskörpern wieder überhängte und den Bauernspieß in die Hand nahm. »Ich werde jedenfalls hineingehen — an Euch vorbei oder durch Euch hindurch, so oder so.« Er ging zum Schornstein hinüber und hob die Blechschachtel auf. Der Drahtgriff war nun mehr als nur warm.
»Diese Freunde, die Ihr erwähnt habt«, sagte Sandar. »Sind das drei Frauen?«
Mat runzelte die Stirn und wünschte, daß bessere Lichtverhältnisse herrschten, damit er das Gesicht des Mannes genauer sehen könne. Die Stimme des Burschen klang eigenartig. »Was wißt Ihr von ihnen?«
»Ich weiß, daß sie sich im Stein befinden. Ich kenne ein kleines Seitentor in der Nähe des Flusses, das ein Diebfänger mit einem Gefangenen passieren darf, wenn er ihn zu den Zellen bringt. Und in den Zellen dürften sie wahrscheinlich zu finden sein. Wenn Ihr mir vertraut, Spieler, dann kann ich uns so weit bringen. Was danach geschieht, hängt vom Zufall ab. Vielleicht bringt Euer Glück uns wieder lebendig heraus.«
»Ich habe schon immer Glück gehabt«, sagte Mat bedächtig. Traue ich meinem Glück soweit, daß ich ihm traue? Der Einfall, den Gefangenen zu spielen, gefiel ihm nicht besonders. Es schien zu leicht geschehen zu können, daß aus dem Vorwand Wirklichkeit wurde. Aber das Risiko schien ihm auch wieder nicht größer zu sein, als zu versuchen, im Dunkel dreihundert Fuß oder mehr steil hochzuklettern.
Er blickte zur Stadtmauer hinüber und riß die Augen auf. Schatten glitten darauf entlang, und undeutliche Gestalten kletterten darüber. Aiel — da war er sicher. Sie verschwanden, aber nun konnte er auf der steilsten Felswand unterhalb des Steins von Tear Schatten sehen, die sich langsam hochbewegten. Das wär's also gewesen mit diesem möglichen Weg. Dieser eine Kletterer zuvor hatte es vielleicht in die Festung hinein geschafft, ohne einen Alarm auszulösen, aber hundert oder mehr Aiel würden ja wohl alle Glocken läuten lassen. Allerdings konnten sie auch als Ablenkung nützlich sein. Wenn sie irgendwo im Stein ein Durcheinander verursachten, dann würden diejenigen, die das Gefängnis bewachten, einem Diebfänger mit einem Dieb im Schlepptau nicht soviel Aufmerksamkeit schenken.
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