»Sie ist am Leben«, sagte Moiraine bedächtig. »Ich kann nicht, ich wage es nicht, näher zu kommen, um mehr sagen zu können, aber sie lebt. Sie... schläft auf gewisse Weise. So wie ein Bär im Winter. Ihr Herz schlägt so langsam, daß man dazwischen die Minuten zählen kann. Mit ihrer Atmung ist es dasselbe. Sie schläft.« Selbst aus dieser Kapuze heraus konnte er ihren Blick auf sich ruhen fühlen. »Ich fürchte, daß sie nicht mehr hier ist, Perrin. Sie befindet sich nicht mehr in ihrem Körper.«
»Was meint Ihr damit, daß sie sich nicht in ihrem Körper befindet? Licht! Ihr wollt doch nicht etwa sagen, daß sie... ihre Seele gestohlen haben? Wie bei den Grauen Männern?« Moiraine schüttelte den Kopf. Er atmete erleichtert auf. Seine Brust schmerzte, als habe er seit ihren letzten Worten nicht mehr geatmet. »Wo ist sie dann, Moiraine?«
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich habe eine Vermutung, doch ich weiß es nicht.«
»Eine Vermutung, einen Hinweis, alles! Seng mich, wo?« Lan rührte sich ob der Grobheit in seinem Tonfall, aber er wußte, daß er den Behüter wie eine Eisenstange auf der Meißelkante zu zerbrechen versuchen würde, sollte er ihn aufhalten wollen. »Wo?«
»Ich weiß sehr wenig, Perrin.« Moiraines Stimme klang wie kalte, gefühllose Musik in seinen Ohren. »Ich habe mich an das wenige erinnert, was einen geschnitzten Igel mit dem Element Geist verbindet. Die Schnitzerei ist ein Ter'Angreal , der zuletzt von Corianin Nedeal untersucht wurde, der letzten Träumerin in der Burg. Das Talent, das man mit dem Träumen umschreibt, hat etwas mit dem Element Geist zu tun, Perrin. Ich habe das niemals studiert; meine Talente liegen anderswo. Ich glaube, daß Zarine in einem Traum gefangen wurde, vielleicht sogar in der Welt der Träume, Tel'aran'rhiod. Alles, was ihr Wesen, ihre Seele ausmacht, befindet sich in diesem Traum. Ein Träumer schickt nur einen Teil seiner selbst dorthin. Falls Zarine nicht bald zurückkehrt, wird ihr Körper sterben. Vielleicht lebt sie dann in dem Traum weiter. Ich weiß es nicht.«
»Es gibt zuviel, was Ihr nicht wißt«, knurrte Perrin. Er lugte in das Zimmer hinein und hätte am liebsten geweint. Zarine wirkte so klein und so hilflos, wie sie da drinnen lag. Faile. Ich schwöre, ich werde dich von nun an nur noch Faile nennen. »Warum unternehmt Ihr denn nichts?«
»Die Falle wurde ausgelöst, Perrin, aber sie wird immer noch jeden einfangen, der diesen Raum betritt. Ich käme nicht einmal an ihre Seite, bevor es auch mich erwischte. Und ich habe eine Aufgabe, die ich heute nacht erfüllen muß.«
»Seng Euch, Aes Sedai! Seng Eure Aufgabe! Diese Welt der Träume! Ist sie wie meine Wolfsträume? Ihr sagtet, daß die Träumer manchmal Wölfe dort sehen.«
»Ich habe Euch gesagt, was ich konnte«, sagte sie scharf. »Es ist Zeit für Euch, zu gehen. Lan und ich müssen uns auf den Weg zum Stein machen. Es kann jetzt kein Warten mehr geben.«
»Nein.« Er sagte es ruhig, doch als Moiraine den Mund zu einer Entgegnung öffnete, erhob er seine Stimme. »Nein! Ich werde sie nicht verlassen!«
Die Aes Sedai atmete tief durch. »Also gut, Perrin.« Ihre Stimme war aus purem Eis: ruhig, glatt, kalt. »Bleibt, wenn Ihr wünscht. Vielleicht überlebt Ihr ja diese Nacht. Lan!«
Sie und der Behüter schritten den Flur hinunter zu ihren Zimmern. Nach wenigen Augenblicken erschienen sie wieder. Lan trug seinen farbverändernden Umhang und verschwand die Treppe hinunter, ohne daß sie ihm auch nur ein Wort sagen mußte.
Er blickte durch die offene Tür Faile an. Ich muß etwas unternehmen. Wenn es so ist, wie die Wolfsträume...
»Perrin«, ertönte Loials tiefes Grollen, »was ist mit Faile?« Der Ogier kam in Hemdsärmeln über den Flur heran, Tinte an den Fingern und eine Schreibfeder in der Hand. »Lan sagte mir, ich solle gehen, und dann sagte er etwas von Faile, die in einer Falle stecke. Was hat er gemeint?«
Abgelenkt berichtete Perrin ihm, was Moiraine gesagt hatte. Es könnte klappen. Vielleicht. Es muß einfach! Er war überrascht, als Loial grollte:
»Nein! Perrin, das ist einfach nicht recht! Faile war so frei. Es ist nicht recht, sie in eine Falle zu sperren!«
Perrin blickte zu Loials Gesicht auf, und plötzlich fielen ihm die alten Geschichten ein, in denen behauptet wurde, die Ogier seien unnachgiebige Feinde. Loials Ohren lagen flach an den Seiten seines Kopfes an, und sein Gesicht war so hart wie ein Amboß.
»Loial, ich werde versuchen, Faile zu helfen. Aber währenddessen bin ich selbst völlig hilflos. Deckst du mir den Rücken?«
Loial hob diese riesigen Hände, die so vorsichtig ein Buch halten konnten, und seine dicken Finger krümmten sich, als wolle er Steine zermalmen. »Niemand kommt an mir vorbei, solange ich am Leben bin, Perrin. Nicht einmal ein Myrddraal oder der Dunkle König selbst.« Er sprach dies aus, als sei es eine Tatsache, an der nicht zu rütteln war.
Perrin nickte und blickte noch einmal durch die Tür. Es muß funktionieren. Es ist mir jetzt gleich, ob Min mich vor ihr warnte oder nicht. Mit einem Knurren sprang er auf Faile zu und streckte die Hand nach ihr aus. Er glaubte noch, ihren Knöchel berührt zu haben, bevor er das Bewußtsein verlor. Ob dieser Traum von einer Falle ihn nach Tel'aran'rhiod geführt hatte oder nicht, war Perrin nicht klar, aber er wußte, daß es ein Wolfstraum war. Grasbewachsene Hügel mit vereinzelten Dickichten umgaben ihn. Er sah Hirsche an einer Baumgruppe äsen, und über das Gras huschte eine Herde von Tieren, die wie braungestreifte Hirsche aussahen, aber lange, gerade Hörner aufwiesen, in hohen Sätzen dahin. Ihre Witterung, die der Wind zu ihm herübertrieb, sagte ihm, daß sie gut schmecken würden. Andere Düfte zeugten davon, daß hier die Jagdgründe sehr gut waren. Das war der Traum eines Wolfs.
Er trug die lange Lederweste eines Schmieds, wie er bemerkte. Seine Arme waren bloß. An seiner Seite hing etwas Schweres. Er berührte den Axtgürtel, aber nicht die Axt hing dort in ihrer Schlinge. Er ließ seine Finger über den glatten Kopf des Schmiedehammers gleiten. Es war ein gutes Gefühl.
Springer erhob sich direkt vor ihm.
Wieder kommst du wie ein Narr herbei. Der Gedanke aber zeigte das Bild eines Welpen, der ihre Nase in einen hohlen Baumstamm steckte, um den Honig aufzuschlecken, obwohl Bienen ihn in die Schnauze und in die Augen stachen. Die Gefahr ist größer denn je, Junger Bulle. Bösartige Dinge bevölkern den Traum. Die Brüder und Schwestern meiden den Steinberg, den die Zweibeiner errichtet haben. Sie fürchten sich beinahe schon davor, den anderen einen Traum zu schicken. Du mußt gehen!
»Nein«, sagte Perrin. »Faile ist hier irgendwo und steckt in einer Falle. Ich muß sie finden, Springer. Ich muß!« Er fühlte, wie sich in ihm selbst etwas verschob, etwas änderte. Er blickte auf seine zottigen Beine und seine breiten Pfoten hinunter. Er war ein noch größerer Wolf als Springer.
Du bist zu sehr hier! Jeder dieser Gedanken sandte nackte Angst. Du wirst sterben, Junger Bulle!
Wenn ich den Falken nicht befreie, ist es mir gleich, Bruder.
Dann wollen wir jagen, Bruder.
Die Schnauzen im Wind, jagten die beiden Wölfe über die Ebene, auf der Suche nach dem Falken.
Mat war sich klar darüber, daß die Dächer von Tear in der Nacht kein geeigneter Aufenthaltsort für einen vernünftigen Mann waren. Er spähte in die Schatten, die der Mondschein zurückließ. Nur etwa fünfzig Schritt Entfernung über eine breite Straße oder einen kleinen Platz hinweg trennten das Ziegeldach, auf dem er sich befand, vom Stein. Er befand sich drei Stockwerke hoch über den Pflastersteinen. Aber seit wann bin ich ein vernünftiger Mann? Die einzigen vernünftigen Leute, die ich je kennenlernte, waren so langweilig, daß man schon vom Zusehen hätte einschlafen können. Ob nun Straße oder kleiner Platz, er war jedenfalls seit Einbruch der Nacht dort unten rund um den Stein marschiert. Nur ans Flußufer konnte man nicht gelangen, da wo der Erinin genau am Fuß der Festung entlangfloß. Ansonsten war die einzige Unterbrechung die Stadtmauer gewesen. Diese Mauer befand sich nur zwei Häuserblocks zu seiner Rechten. Wie auch immer, die Mauerkrone erschien ihm als der beste Weg zum Stein, aber es war keiner, den er mit viel Vergnügen angehen würde.
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