Im ersten Moment, als ihre Füße wieder festes Land betraten, fühlte sie nur Erleichterung. Das hier stampfte und rollte nicht. Dann begann sie sich in dieser Stadt umzusehen, die zu erreichen ihnen soviel Mühe und Schmerzen bereitet hatte. Gleich hinter den langen Kais befanden sich steinerne Lagerhäuser, und eine große Anzahl von Schiffen, groß und klein, lag an den Kais oder im Fluß vor Anker. Hastig wandte sie ihren Blick von den Schiffen ab. Tear war auf einer Ebene erbaut worden, die kaum eine Erhebung aufwies. Wenn sie die schlammigen, ungepflasterten Straßen zwischen den Lagerhäusern hinunterblickte, sah sie Häuser, Schenken und Tavernen aus Holz und Stein. Ihre mit Schieferplatten oder Ziegeln gedeckten Dächer hatten eigenartige Ecken, und manche liefen sogar oben zu einer Spitze zusammen. Weiter entfernt konnte sie eine hohe Mauer aus dunkelgrauem Stein erkennen und dahinter wieder die Spitzen von Türmen mit umlaufenden Galerien, dazu die weißen Kuppeln von Schlössern. Aber die Kuppeln wirkten etwas eckig, und die Türme hatten spitz zulaufende Dächer, so wie einige der Häuser außerhalb. Alles in allem war Tear sicher ebenso groß wie Caemlyn oder Tar Valon, und wenn vielleicht nicht so schön, war es doch eine der ganz großen Städte. Doch von einem konnte sie den Blick kaum reißen: dem Stein von Tear.
Sie hatte davon in Geschichten gehört, gehört, daß es die größte und älteste Festung der Welt sei, die erste nach der Zerstörung der Welt erbaute, und doch hatte nichts sie auf diesen Anblick vorbereitet. Beim ersten Hinschauen glaubte sie noch, es sei ein mächtiger, grauer Steinhügel oder ein kleiner, kahler Tafelberg, Hunderte von Schritten lang auf jeder Seite. Er erstreckte sich vom Erinin im Westen durch die Mauer bis weit in die Stadt hinein. Selbst nachdem sie die große Flagge vom höchsten Punkt aus hatte flattern sehen — drei weiße Mondsicheln schräg über einem halb roten und halb goldenem Feld; diese Flagge befand sich in mindestens dreihundert Schritt Höhe über dem Fluß und war so groß, daß man sie ganz deutlich sehen konnte — und dann die Zinnen und Türme bemerkte, selbst dann war es schwer, den Stein von Tear als etwas von Menschenhand Erbautes zu sehen. Er sah aus, als sei er von einem Riesen aus einem Berg herausgehauen worden.
»Mit Hilfe der Macht erbaut«, murmelte Elayne. Auch sie starrte den Stein an. »Ströme des Elements Erde verwoben, um den Stein aus dem Erdboden heraufzuholen. Die Luft mußte Material aus allen Teilen der Welt herbeiholen, und Erde und Feuer gemeinsam verschweißen es zu einem großen Block ohne Spalt und ohne jedes bißchen Zement. Atuan Sedai meinte, heutzutage könnte die Burg das nicht mehr vollbringen. Seltsam, wenn man bedenkt, wie die Hochlords heute der Macht ablehnend gegenüberstehen.«
»Ich glaube«, stellte Nynaeve fest, die den Schauerleuten in ihrer Nähe beim Arbeiten zusah, »genau deswegen sollten wir gewisse Dinge nicht laut erwähnen.« Elayne schien zwischen Entrüstung — sie hatte ja schon sehr leise gesprochen — und Zustimmung hin- und hergerissen. Die Tochter-Erbin stimmte Nynaeve zu oft und allzu bereitwillig zu, und das paßte Egwene nicht.
Nur wenn Nynaeve recht hat, gab sie dann aber widerstrebend zu. Hier würde man eine Frau sehr genau beobachten, die den Ring trug oder auch nur mit Tar Valon in Verbindung gebracht wurde. Die barfüßigen Schauerleute in ihren Lederwesten achteten nicht auf die drei Frauen, als sie ihrer Arbeit nachgingen: Ballen oder Kisten auf dem Rücken schleppen oder auf Karren verladen. Der starke Geruch nach Fisch lag in der Luft. An den nächsten drei Kais lagen Dutzende kleiner Fischerboote, so, wie auf jener Zeichnung im Arbeitszimmer der Amyrlin. Männer mit nacktem Oberkörper und barfüßige Frauen hievten Körbe voll mit Fischen aus den Booten, Haufen von Silber und Bronze und Grün und anderen Farben, die sie bei Fischen niemals vermutet hätte — Hochrot und Dunkelblau, leuchtendes Gelb, ja, und manche hatten sogar Streifen oder weiße Flecken und ähnliche Muster.
Sie senkte die Stimme, so daß nur Elayne sie hören konnte: »Sie hat recht. Caryla. Denk daran, warum du Caryla bist.« Sie wollte nicht, daß Nynaeve dieses Eingeständnis hörte, denn wenn ihr so etwas zu Ohren kam, änderte sich ihr Gesichtsausdruck wohl nicht, aber Egwene spürte, wie eine Welle der Befriedigung von ihr ausging.
Gerade wurde Nynaeves schwarzer Hengst auf den Kai heruntergelassen. Die Seeleute hatten das Pferdefutter bereits herübergebracht und einfach auf das nasse Pflaster geworfen. Nynaeve sah die Pferde an und öffnete den Mund. Egwene war sicher, daß sie befehlen wollte, die Pferde zu satteln. Dann schloß sie ihn aber wieder und preßte lediglich die Lippen aufeinander, als habe sie das einige Mühe gekostet. Sie riß wieder einmal an ihrem Zopf. Bevor man noch die Segeltuchschlinge ganz entfernt hatte, warf sie bereits die blaugestreifte Satteldecke auf den Rücken des Schwarzen und hob ihren hochbordigen Sattel nach oben. Sie sah sich nicht einmal nach den anderen beiden Frauen um.
Egwene war in diesem Augenblick keineswegs erpicht darauf zu reiten. Die Bewegungen des Pferdes würden möglicherweise ihren Magen an das Schaukeln des Schiffes erinnern. Doch ein Blick auf die schlammigen Straßen überzeugte sie. Ihre Schuhe waren wohl fest, aber sie versank damit nicht gern im Schlamm oder hielt die ganze Zeit den Rock hochgerafft, um überhaupt richtig laufen zu können. So sattelte sie Nebel schnell, saß auf und strich ihren Rock glatt. Sie mußte sich selbst überrumpeln, sonst hätte sie vielleicht doch die Straßen gar nicht so schlimm gefunden... Auf dem Pelikan hatte diesmal Elayne ein wenig genäht. Die Tochter-Erbin konnte sehr präzise nähen. Sie hatte ihre Röcke alle geteilt und zu Hosenröcken abgenäht, damit sie richtig auf den Pferden sitzen konnte.
Nynaeve erbleichte, als sie sich in den Sattel schwang und der Hengst zur Seite tänzelte. Doch sie beherrschte sich mit zusammengepreßten Lippen, nahm die Zügel fest in die Hände und hatte ihn schnell unter Kontrolle. Als sie schließlich an den Lagerhäusern vorbeigeritten waren, war sie wieder in der Lage, zu sprechen. »Wir müssen Liandrin und die anderen aufspüren, ohne sie erfahren zu lassen, daß wir nach ihnen fragen. Sie wissen sicherlich, daß wir kommen, oder zumindest, daß jemand kommt, aber ich möchte sie nichts von unserer Ankunft wissen lassen, bis es zu spät für sie ist.« Sie holte tief Luft. »Ich gebe zu, mir ist noch nicht eingefallen, wie wir das anstellen sollen. Bisher. Hat eine von euch einen Vorschlag?«
»Ein Diebfänger«, sagte Elayne ohne zu zögern. Nynaeve runzelte die Stirn.
»Meinst du einen wie Hurin?« fragte Egwene. »Aber Hurin handelte im Dienst seines Königs. Jeder Diebfänger hier wird doch sicherlich im Dienst der Hochlords stehen?«
Elayne nickte, und einen Augenblick lang beneidete Egwene die Tochter-Erbin um ihren guten Magen. »Ja, schon. Aber die Diebfänger sind nicht dasselbe wie die Königliche Garde oder in Tear die Verteidiger des Steins. Sie dienen dem Herrscher, aber Leute, die bestohlen wurden, zahlen ihnen manchmal dafür, daß sie ihre gestohlenen Güter wieder besorgen. Und manchmal werden sie auch dafür bezahlt, bestimmte Leute zu suchen. Zumindest ist das in Caemlyn der Fall. Ich glaube nicht, daß es in Tear anders sein wird.«
»Dann nehmen wir uns Zimmer in einer Schenke«, sagte Egwene, »und bitten den Wirt, einen Diebfänger für uns aufzuspüren.«
»Keine Schenke«, sagte Nynaeve so entschlossen, wie sie auch ihren Hengst lenkte. Sie schien das Tier immer vollkommen unter Kontrolle zu haben. Einen Moment später mäßigte sie aber ihren Tonfall: »Zumindest Liandrin kennt uns, und wir müssen annehmen, daß uns auch die anderen kennen. Sie werden mit Sicherheit die Schenken überwachen, um zu sehen, wer der Spur folgt, die sie ausgelegt haben. Ich will ihre Falle zum Zuschnappen bringen, aber wir sollten nicht gerade drinstecken. Wir bleiben nicht in einer Schenke.«
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