»Was ist los?« fragte Zarine. »Du bist plötzlich so verkrampft. Es ist, als halte man sich an einem Felsblock fest.«
»Etwas stimmt hier nicht«, sagte er zu ihr. »Ich weiß nicht, was, aber es stimmt wirklich irgend etwas nicht.« Loial nickte traurig und murmelte etwas davon, daß sie ihn zurückbringen würden.
Der Baustil in ihrer Umgebung veränderte sich im Weiterreiten. Sie überquerten noch mehr Brücken zur anderen Seite Illians hin. Die Mauern waren nun häufig unverputzt. Die Türmchen und Paläste verschwanden und machten Schenken und Lagerhäusern Platz. Viele der Männer auf der Straße und auch einige der Frauen gingen mit eigenartig rollenden Bewegungen einher. Sie alle waren barfuß wie die Seeleute. In der Luft lag ein starker Geruch nach Pech und Hanf und vor allem nach Holz — frisch gehacktem und auch lackiertem, und sauer riechender Schlamm überlagerte das alles noch. Auch die von den Kanälen ausgehenden Gerüche waren hier anders. Er rümpfte die Nase. Nachttöpfe, dachte er. Nachttöpfe und alte Sickergruben hinter den Klos. Ihm wurde ein wenig übel davon.
»Die Brücke der Blumen«, verkündete Lan, als sie wieder über eine der niedrigen Brücken ritten. Er atmete tief ein. »Und nun befinden wir uns im Parfümierten Viertel. Die Illianer sind ein Volk von Poeten.«
Zarine unterdrückte offensichtlich das Lachen, indem sie sich an Perrins Rücken drückte.
Als habe er mit einem Mal die Geduld verloren, sich dem langsamen Rhythmus der Illianer anzupassen, führte Lan sie nun schnell durch die Straßen zu einer Schenke. Zwei Stockwerke waren aus rauhem, grüngeädertem Stein erbaut, und obenauf thronten blaßgrüne Dachplatten. Der Abend nahte, und mit dem Sinken der Sonne wurden ihre Strahlen erträglicher. Das brachte ein wenig Erleichterung von der Hitze, aber eben nicht viel. Ein paar Jungen saßen auf den kurzen Steinpfosten vor der Schenke, und nun hüpften sie herunter und nahmen ihre Pferde in Empfang. Ein schwarzhaariger Bursche von vielleicht zehn Jahren fragte Loial, ob er ein Ogier sei, und als Loial das bejahte, sagte der Junge: »Ich das gedacht haben.« Er grinste selbstgefällig und nickte dabei. Dann führte er Loials großes Pferd weg und warf im Gehen die Kupfermünze hoch, die ihm Loial gegeben hatte. Er fing sie ebenso geschickt wieder auf.
Perrin blickte mit gerunzelter Stirn zu dem Schild hoch, das über dem Eingang hing. Ein weiß gestreifter Dachs tanzte auf den Hinterbeinen mit einem Mann, der etwas wie eine silberne Schaufel zu tragen schien. ›Zum fröhlichen Dachs‹ stand darauf. Das muß aus irgendeiner Geschichte stammen, die ich noch nie gehört habe.
Im Schankraum lagen Sägespäne auf dem Fußboden und Tabaksrauch in der Luft. Es roch außerdem noch nach Wein und Fisch aus der Küche und nach einem schweren, blumigen Parfum. Die freiliegenden Deckenbalken waren roh behauen und dunkel vom Alter. So früh am Abend waren nur etwa ein Viertel der Stühle und Bänke besetzt. Da saßen vor allem Arbeiter in einfachen Jacken und Westen, und einige davon zeigten die schwieligen bloßen Füße von Seeleuten. Alle saßen so nahe wie möglich zusammengedrängt um einen Tisch herum. Dort tanzte mit wirbelndem Rock auf der Tischfläche ein hübsches, dunkeläugiges Mädchen — von ihr ging der Parfumduft aus — und sang, begleitet von einer zwölfseitigen Zither. Ihre lose weiße Bluse war auffallend tief ausgeschnitten. Perrin erkannte die Melodie — ›Die Tänzerin‹ —, aber der Text des Mädchens war ganz anders als der, den er kannte.
»Ein Mädel aus Lugard kam in die Stadt, um was zu erleben.
Sie lachte und blinzelte jedem gleich zu, die Herzen der Jungs bracht' sie zum Beben. Ihre Beine so schlank, die Haut so zart, so fing sie 'nen Käpten sich ein im Nu. Mit jedem Mann, ob sanft oder hart, war sie bereit, einen zu heben.«
Sie fing die nächste Strophe an, und als Perrin begriff, was sie da sang, lief er knallrot an. Er hatte geglaubt, nachdem er die Kesselflickermädchen hatte tanzen sehen, könne ihn nichts mehr aus dem Gleichgewicht bringen, aber die hatten nur angedeutet, was dieses Mädchen offen heraussang.
Zarine nickte im Rhythmus der Musik und lächelte. Als sie ihn anblickte, grinste sie schließlich breit. »Na, Bauernjunge, ich habe ja noch nie einen Mann in deinem Alter kennengelernt, der immer noch rot wird.« Er funkelte sie an und hätte beinahe etwas Dummes gesagt. Diese verdammte Frau bringt mich aus der Ruhe, bevor ich auch nur denken kann. Licht, ich wette, sie glaubt, ich hätte noch nie ein Mädchen geküßt! Er bemühte sich, nicht mehr auf den Text des Liedes zu hören, den das Mädchen sang. Wenn er die Röte nicht schleunigst aus seinem Gesicht vertrieb, würde Zarine garantiert noch mehr auf ihm herumhacken.
Die Wirtin hatte bei ihrem Eintreten ganz kurz überrascht dreingeblickt. Die große, rundliche Frau, die ihr Haar im Nacken zu einem dicken Dutt zusammengebunden hatte und die stark nach Seife roch, überwand ihre Überraschung jedoch schnell und eilte zu Moiraine herüber.
»Frau Mari«, sagte sie, »ich hatte nicht erwartet, Euch heute hier zu sehen!« Sie zögerte, musterte Perrin und Zarine kurz und warf Loial einen Blick zu, doch keinen so forschenden wie den zuvor. Ihre Miene hellte sich sogar beim Anblick des Ogiers auf. Doch ihre Aufmerksamkeit galt in erster Linie ›Frau Mari‹. Sie senkte die Stimme. »Meine Tauben nicht ankommen bei Euch?« Sie schien Lan als Teil von Moiraine ganz selbstverständlich hinzunehmen.
»Bestimmt sind sie sicher angekommen, Nieda«, sagte Moiraine. »Ich war weg, aber Adine hat bestimmt alles aufgeschrieben, was Ihr berichtet habt.« Sie betrachtete das Mädchen auf dem Tisch ohne ein äußeres Anzeichen der Mißbilligung oder irgendeinen meßbaren Gesichtsausdruck. »Im ›Dachs‹ war es erheblich ruhiger, als ich zuletzt hier war.«
»Ja, Frau Mari, das sein so. Aber die Rabauken noch nicht über den Winter weggekommen sind, es mir scheinen. Ich in zehn Jahren keine Rauferei im ›Dachs‹ haben, bis der Schwanz von diesem Winter vorbei sein.« Sie nickte in Richtung eines Mannes, der ausnahmsweise nicht in der Nähe der Sängerin saß. Der Bursche war noch größer als Perrin und stand mit verschränkten, mächtigen Armen an eine Wand gelehnt da. Mit dem Fuß klopfte er den Rhythmus der Musik nach. »Sogar Bili Schwierigkeiten haben, sie zu halten zurück. Deshalb ich einstellen das Mädchen, damit auf andere Gedanken sie kommen. Von irgendwo in Altara sie ist.« Sie hielt den Kopf schief und hörte einen Augenblick lang zu. »Eine gute Stimme, aber ich singen besser, ja, und auch tanzen besser, als ich sein in ihrem Alter.«
Perrin schnappte nach Luft, als er sich diese mächtige Frau auf einem Tisch beim Tanzen vorstellte. Und wenn sie dann noch dieses Lied sang — ein bißchen Text drang zu ihm durch: »Ich trag nichts drunter gewiß, gewiß« —, und dann knallte ihm Zarine eine Faust in die Rippen. Er stöhnte auf.
Nieda sah zu ihm herüber. »Ich werden Euch ein wenig Honig und Schwefel mischen, Junge, für Euren Hals. Ihr sicher nicht wollen noch mehr Erkältung vor dem Frühling, wo ihr haben ein solch hübsches Mädchen am Arm.«
Moiraine warf ihm einen warnenden Blick zu, er solle sich nicht einmischen. »Seltsam, daß es hier Raufereien gibt«, sagte sie. »Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Euer Neffe so etwas im Keim erstickt. Ist etwas vorgefallen, daß die Menschen so gereizt sind?«
Nieda dachte einen Augenblick lang nach. »Vielleicht. Es sein schwer zu sagen. Die jungen Lords immer kommen herunter zum Hafen, um zu feiern und sich Mädchen zu suchen, weil sie nicht dürfen, wo die Luft frischer sein. Vielleicht sie nun kommen öfters, weil Winter war so hart. Vielleicht. Und andere streiten sich auch viel öfter. Es wirklich war ein schlimmer Winter. Das machen Männer zorniger und Frauen auch. All der Regen und die Kälte. Ich sogar aufwachen an zwei Morgen mit Eis in meiner Waschschüssel. Natürlich trotzdem nicht so schlimm wie der Winter davor, aber das sein ohnehin der schlimmste Winter in tausend Jahren gewesen. Beinahe könnte ich glauben die Geschichten von Reisenden, daß gefrorenes Wasser vom Himmel fällt.« Sie kicherte, um zu zeigen, wie wenig sie daran glauben mochte. Es war ein eigenartiger Laut von einer so großen Frauensperson.
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