Nur wenige Zoll war die Klinge noch von Marcians Augen entfernt, als der Tätowierte plötzlich schreiend herumfuhr. Ein Schwerthieb hatte ihn an der Hand getroffen, noch bevor der Dolch sein Ziel gefunden hatte. Erleichtert atmete Marcian auf, während die Amazone den verletzten Orkkrieger niederstreckte.
»Wo kommst du her?« Marcian fühlte sich plötzlich entsetzlich schwach.
»Wir haben uns in einem Seitengang versteckt, als der Nebel heranzog. Dann stürmten die Krieger an uns vorbei.« Lysandra grinste breit. »Ich hab dir etwas mitgebracht, Kommandant. - Ulrik, zeig mal unsere Trophäe.«
Einer der Kürassiere tauchte hinter Lysandra auf und hielt einen abgetrennten Orkkopf in die Höhe.
»Mit dem Nebel wird hier gleich Schluß sein!« verkündete Lysandra stolz.
»Wir haben das Übel gleich bei der Wurzel gepackt. Weiter hinten im Gang wartete ein Schamane mit zwei Leibwächtern. Ich glaube, er hat auch die Krieger verzaubert, die hier gekämpft haben.«
Marcian blickte sich um. Alle Gegner waren erschlagen, doch auch sie hatten einen hohen Blutzoll entrichten müssen. Fast alle Zwerge waren tot oder verwundet.
»Kommandant, bitte kommt, schnell!« Die Stimme erklang aus der Richtung, in der die rätselhafte schwarze Steinplatte stand.
Stöhnend richtete sich Marcian auf. Lysandra stützte ihn. Vorbei an Himgi, der gerade notdürftig einen verletzten Kameraden verband, bahnten sie sich ihren Weg durch den verwüsteten Gang. Die Hornisse, die der erste angreifende Ork nach den Zwergen geschleudert hatte, war nur noch ein Haufen verbogenes Metall.
Dicht dahinter kauerte Arthag. Neben ihm lag Nyrilla, die linke Hand fest auf die Brust gepreßt. Blut rann ihr durch die Finger. Ihr lederner Brustpanzer war auf einer Elle längs aufgeschnitten.
»Sie hat mir das Leben gerettet«, Arthags Stimme klang dumpf. »Ein Ork hatte mich niedergeschlagen und wollte mir den Todesstoß versetzen, da hat sie sich ihm in den Weg geworfen.« Arthag schluchzte. »Sein Schwert hat ihren Panzer wie Daunen zerschnitten. Ich konnte hören, wie unter der Wucht des Schlages ihre Rippen brachen. Ich hab dem Schwein meinen Dolch in den Unterleib gestoßen, doch für Nyrilla war es zu spät. Sie sagt, sie wird sterben ...« Wieder stockte dem Zwerg die Stimme. »Sie wollte dir etwas sagen, Marcian.«
»Ich war dumm«, hauchte die Elfe. Ihr Gesicht hatte fast alle Farbe verloren. »Ich hatte vergessen ... wie alt ... der Stein ist. Matzyla Asdharia... Marcianama.«
Fragend blickte der Inquisitor den Zwerg an. »Sie sagt, der Stein muß aus der Zeit der Hochelfen stammen. Sie hat mir eben schon erzählt, daß sie das falsche Wort gewählt hat, eines, das noch nicht zur Sprache der Alten gehörte.«
»Und wie heißt das richtige Wort.«
Marcian griff nach der Rechten, der Elfe, die wie leblos herunterhing. »Das Wort, Nyrilla, wie heißt es?«
War sie schon tot? Nyrillas Gesicht erschien dem Inquisitor wie eine blasse Maske. Ihre bernsteinfarbenen Augen wirkten leer und ausdruckslos.
»Schmerzen ...«, murmelte sie leise. »A’ dao valva iama.«
Wieder blickte Marcian zu Arthag.
»Sie glaubt, daß sie sich bald in ihr Seelentier verwandeln wird.« Die Stimme des Zwergen klang heiser. »Sie wird jetzt sterben.«
»Das Wort ...« Marcian ließ resigniert Nyrillas Hand sinken. Ihre Finger fühlten sich schon ganz kalt an.
»Sha... val.« Ein leichtes Zittern lief durch den Körper der Elfe. Ihre Rechte wies auf die Steinplatte, die weniger als eine halbe Elle von ihrer Hand entfernt war. »Sie redet von einem Sonnenhüter.«
Wieder durchlief ein Zittern ihren Körper. Nyrillas rechte Hand zuckte.
»Kann ihr denn keiner helfen?« schrie Arthag verzweifelt auf. »Warum muß sie so jämmerlich krepieren?«
Tonlos bewegten sich die Lippen der Elfe. Diesmal richtete sie sich ein wenig auf, sackte aber sofort wieder kraftlos zurück. Ein neuer Schwall Blut quoll aus ihrer Wunde.
»Sie will an den Stein. Seid ihr denn alle blind?« Lysandra stieß Marcian und Arthag grob beiseite. Dann griff sie der Elfe unter die Schultern und zog sie vorsichtig zu der großen schwarzen Steinplatte, so daß sie schließlich mit dem Rücken dagegen lehnte. Wieder durchlief die Elfe ein Schauer. Mit schier unmenschlicher Kraft hob sie den rechten Arm und legte ihre Hand auf die stilisierte Schlange, die die Felsplatte schmückte.
»Ar...« Nyrilla zitterte jetzt immer heftiger. »Arsun.« So als habe sie das Wort ihre letzte Lebenskraft gekostet, sank sie zur Seite.
Arthag fing sie auf, während die anderen wie gebannt auf die Felsplatte starrten.
Der große schwarze Stein erzitterte, und dann wurde er immer kleiner. Hinter ihm lag eine von unirdischem Licht erfüllte Höhle.
»Wir bringen dich hier raus. Es wird alles wieder gut.« Arthag hielt Nyrilla im Arm und strich ihr zärtlich über die schweißglänzende Stirn. »Bald werden wir wieder zusammen wandern, und dann bringst du mir die Feinheiten deiner Sprache bei, damit ich dich besser verstehen kann.«
Nyrilla lächelte. Ein dünner Faden Blut floß aus ihrer Nase und benetzte ihre Lippen.
»Sanyasala, boroborinoi ... Auf Wiedersehen, kleiner Bartmurmler.« Nyrillas Kopf sank zurück.
»Sanyasala, feyama. Auf Wiedersehen, meine Elfenfreundin.«
Vorsichtig legte Arthag ihr Haupt zurück und faltete Nyrillas Hände, so daß sie die schreckliche Wunde in der Brust verdeckten. Sanft drückte er ihr die Augen zu.
Dann verbarg der Zwerg sein Gesicht in den Händen.
Die Höhle, die sich geöffnet hatte, war nicht sehr groß. Marcian schätzte, sie maß nur wenig mehr als zehn Schritt in der Tiefe. Ihm gegenüber stand ein gewaltiges Götzenbild aus schwarzem Stein. Der Dämon mit den zwei Herzen in seinen erhobenen Krallenhänden, der ihnen schon so oft als Runenzeichen in den Tunneln begegnet war. Tairach, der Blutgott der Orks. Doch dieses riesige Abbild war auf erschreckende Weise anders. Es war so naturalistisch, daß man kaum wagte, es aus den Augen zu lassen, obwohl Marcian noch niemals etwas gesehen hatte, das so abstoßend und so lebensverneinend war, wie dieses Götterbild.
Vorsichtig schritt der Inquisitor in die Höhle. Die Steinplatte, die den Eingang verschlossen hatte, war auf die Größe eines kleinen Würfels zusammengeschrumpft.
Ein goldenes Licht, das in seltsamem Gegensatz zu dem abstoßenden Tairach-Bildnis stand, erfüllte die Höhle.
Marcian ging jetzt ganz langsam. Vielleicht mochte es hier verborgene Fallen geben? Der Boden war bedeckt von Knochen. Gleich am Eingang hatte das feingliedrige Skelett eines Elfen gelegen. Auf der linken Seite erschien dem Inquisitor das seltsame Licht eine Spur heller zu scheinen. Vorsichtig durchquerte er das Gewölbe, um den großen Haufen Knochen dort in Augenschein zu nehmen.
Was für eine gewaltige Kreatur mochte das gewesen sein. Ein großer ausgeblichener Schädel mit Schnabel und mumifizierten Vogelschwingen von Mannslänge erinnerten an einen riesigen Adler. Doch der Körper erschien zu massig für einen Vogel. Ein unheimliches Leuchten umspielte die bleichen Knochen und zerzausten Federn.
Kein Zweifel, dies mußte die Quelle für das Licht im Inneren der Höhle sein. Marcian kniete nieder, um einen besonders dicken Knochen in Augenschein zu nehmen.
Nein, das war mit Sicherheit kein Vogel gewesen. Das war der, der vom Himmel stieg. Ein Greif! Ein Bote des Praios! Doch was mochte ein so machtvolles Wesen vernichtet haben? Dem Inquisitor lief ein Schauer über den Rücken. Mit was für Mächten hatte er sich hier eingelassen?
»Schaut einmal hier, Marcian. Das ist es!« Die Amazone war die einzige, die es bislang gewagt hatte, dem Inquisitor in die Höhle zu folgen. Sie kniete vor dem Standbild des Tairach und wog einen großen, keulenartigen Gegenstand in ihren Händen.
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