Ein tausendfacher Schrei erklang, erschreckend nah und zugleich nicht mehr von dieser Welt. Ollowain hatte auf unzähligen Schlachtfeldern gestanden. In seinem Leben, das nach Jahrhunderten zählte, hatte er unzählige Male dem Tod gelauscht. Wimmernd, röchelnd, trotzig fluchend waren die Sterbenden um ihn herum ihrem Ende begegnet. Manche riefen nach ihrer Mutter oder ihrer Geliebten, andere starben würdelos kreischend. All dies war dem Schwertmeister wohl vertraut, aber Todesschreie wie diese hatte er nie zuvor vernommen.
Eine Geste von Emerelle ließ das dunkle Tor vergehen und schnitt die Stimmen der Trolle ab. Die steinernen Schlangen flüchteten zurück an ihren Platz im Mosaik. Das leise flüsternde Wasser an den Wänden des Thronsaals verstummte. Es war jetzt totenstill in der großen, verlassenen Burg.
Ollowain zitterte, als er das Schwert zurück in die Scheide schob. Es war kälter geworden. Mondlicht wob seinen Zauber im weiten Thronsaal.
Nur ein Wort der Königin hatte genügt, den Elfen Frieden zu bringen. Alles war gut, redete sich Ollowain ein. Und doch spürte er, dass sich etwas verändert hatte. Etwas Fremdes, Ungreifbares war um ihn herum. Es vermochte sich vor ihm zu verbergen, aber er wusste, es war hier. Ganz nahe! Feuchtigkeit hing schwer in der Luft und mit ihr der Duft von Lindenblüten. Ollowain hatte dicht vor dem dunklen Tor gestanden. Nichts hätte unbemerkt an ihm vorbeigelangen können. Und dennoch war etwas hier ...
Obwohl er der berühmteste Schwertkämpfer Albenmarks war, fühlte er sich hilflos wie ein Kind. Ausgeliefert dem Unnennbaren. Er kniete neben seiner Königin nieder. Die Lippen schmal, den Blick in sich gekehrt, verharrte sie kniend. Mit beiden Händen hielt Emerelle den Albenstein umklammert, wie ein Frierender in einer Winternacht einen Becher mit warmem Wein.
Zärtlich umfingen seine Hände ihre kalten Finger. »Was ist geschehen, Herrin?« Emerelle schwieg. Sie sah zu den bunten Steinen des Mosaiks hinab, als verberge sich in dem Bild ein Geheimnis, das nur sie allein zu deuten mochte. So schien es Ollowain, bis er begriff, dass die Königin in Wahrheit seinen Blick mied.
Lange knieten sie einander gegenüber. Langsam kehrte die Wärme in Emerelles Finger zurück. Kein Laut störte die Stille.
Der Drachenstern stand schon tief im Westen, als die Königin sich erhob. Schweigend folgte Ollowain ihr die Stufen zum Thron hinauf. Er wusste, dass es sinnlos war, seine Frage zu wiederholen. Sie würde ihm antworten, wann es ihr gefiel. Vielleicht auch nie ... So viele Geheimnisse trug sie in ihrem Herzen. Es hieß, Emerelle sei die Älteste ihres Volkes, und sie habe bereits gelebt, bevor die Alben ins Mondlicht gegangen waren. Selbst für eine Elfe war die Spanne ihres Lebens schier unermesslich. Sie war alt wie die Berge, und doch hatte sie nie ihren jugendlichen Liebreiz verloren. Jetzt aber wirkte sie müde. Leicht vorgebeugt stand sie vor der flachen Silberschüssel neben dem Thron. Manchmal verharrte sie so ganze Tage. Nur Ollowain, Meister Alvias und Obilee durften den Thronsaal betreten, wenn die Herrin Albenmarks versuchte, der Zukunft ihre Geheimnisse zu entreißen. Im spiegelnden Wasser der Schüssel erblickte Emerelle, was in kommenden Jahrhunderten geschehen mochte, und sie hielt stumme Zwiesprache mit dem Schicksal, um über den Weg der Völker Albenmarks zu entscheiden.
Im Wasser der Schüssel lagen reglos die beiden Nachtigallen. Ihr Gefieder war zerzaust. Die kleinen Schnäbel standen offen; sie waren gestorben, während sie gesungen hatten. Eine Laune des Lichts ließ das Wasser einen Augenblick lang schwarz erscheinen, als treibe ein Schatten unter der spiegelnden Oberfläche.
»Wir beide wären jetzt tot, wenn ich es nicht getan hätte«, sagte Emerelle leise. »Aus den Türmen der Burg würden himmelhohe Flammen schlagen, aber diese Nachtigallen säßen im Geäst der beiden Linden unten im Tal, dort, wo die Quelle entspringt, die sich in den See ergießt. Sie hatten begonnen, sich dort ein Nest zu bauen ...« Emerelle standen Tränen in den Augen. Nie zuvor hatte Ollowain die Königin weinen gesehen.
»Was hast du getan, Herrin?«
»Ich habe einen Teil der Schöpfung der Alben zerstört. Einen der goldenen Pfade, die durch das Dunkel führen. Jenen Pfad, den die Trolle gewählt hatten, um hierher zu gelangen. Alle, die ihn betreten haben, sind ins Nichts gestürzt. Ich ...« Sie rang einen Augenblick lang um Worte. »Es war Zorn, der meine Tat bestimmte. Ich habe einen Weg beschritten, auf den ich nicht vorbereitet war und von dem ich nicht weiß, wohin er führen wird.«
»Aber du sagtest, wir wären sonst tot«, wandte Ollowain ein. Er mochte nicht glauben, was er hörte. Solange er Emerelle kannte, hatte er immer darauf vertraut, dass sie wusste, was die Zukunft brachte, und dass all ihr Tun in diesem Wissen begründet war. Vor allem, wenn er ihr Handeln nicht verstand, hatte er sich mit diesem Glauben gegen seine Zweifel gewappnet.
»Was sonst wäre wohl mit uns geschehen, wenn die Trolle den Thronsaal gestürmt hätten? Hättest du dich ergeben? Niemals. Und auf welche Weise ich an Branbarts Siegesfest teilnehmen sollte, ist dir auch bekannt. Man muss nicht immer Magie wirken, um die Zukunft zu kennen.«
Vorsichtig hob Emerelle die beiden toten Vögel aus dem Wasser und bettete sie in ihre Handflächen. »Unsere Zukunft ist wie ein Baum, Ollowain. Mit jedem Herzschlag treibt er tausende junge Äste, die sich schon beim nächsten Herzschlag wieder zerteilen und zu einer mächtigen, unübersichtlichen Baumkrone werden. Mir war bewusst, dass Skanga Angst davor hatte, noch einmal die Albenpfade zu beschreiten. Zweimal schon haben die Trolle gesiegt, weil sie das Werk der Alben missbrauchten. Sie wusste, dass ich hier im Thronsaal stehen würde, um auf sie zu warten. Bei allen möglichen Zukünften, die ich gesehen habe, hat sie es nur ein einziges Mal gewagt, das Tor zu öffnen. Ihr war klar, dass ich die Macht habe, einen Albenpfad zu zerstören. Sie hat sich gefürchtet. Deshalb wählte sie die Macht des Blutes und der Finsternis, um ihren Zauber zu wirken. Dies sind die Spielarten der Magie, die mir am wenigsten vertraut sind.« Emerelle zitterte vor Zorn, während sie sprach. »Ich habe bis zuletzt nicht wahrhaben wollen, dass sie sich noch einmal in das goldene Netz wagen würde. Sie hat darauf vertraut, dass ich mich fürchten würde, das Werk der Alben zu einem Teil zu zerstören. Dies ist ein Zweig der Zukunft, den ich nicht erforscht habe, denn er führt in die Dunkelheit. Er ...« Wieder versagte ihr die Stimme.
Ollowain spürte ihre Angst. Was war an Stelle der Trolle in ihre Welt getreten? Welchen Schrecken hatte sie in ihrem Zorn beschworen?
Die Königin wandte sich von der spiegelnden Silberschale ab. Erstes Morgenlicht vertrieb die Schatten im Thronsaal. Vorsichtig legte Emerelle die beiden toten Vögel auf die Lehne ihres Throns. »Hunderte Zukünfte habe ich erforscht. Tausende sind mir verborgen geblieben. Auf fast jedem Weg, dem ich folgte, sah ich, wie die Trolle ein gewaltiges Heer aufstellten. Ich sah weite Ebenen in Flammen und brennende Städte. Wer sich diesem Heer in den Weg stellte, der wurde vernichtet. Unaufhaltsam kam es nach Süden, zum Herzland. Das war es, was sie wollten. Sie wollten Albenmark das Herz herausreißen.«
Ollowain spähte in die verblassenden Schatten. Etwas verbarg sich dort. Warum sprach Emerelle nicht davon? Würden ihre Worte dem fremden Wesen weitere Macht verleihen? Er erinnerte sich an dunkle Legenden über ein ungenanntes Böses. Ihm einen Namen zu geben, machte es stärker. Es hieß, die Alben hätten es vertrieben. Aber man sprach immer noch nicht darüber. Emerelle wusste, was sie tat, redete sich der Schwertmeister ein. Trotz allem, was in dieser Nacht geschehen war. Wenn sie nicht darüber reden wollte, was die Nachtigallen getötet hatte, war es klüger, diese Frage unausgesprochen zu lassen. »Und wenn wir uns den Trollen mit aller Kraft entgegenwerfen würden?« Vor wenigen Stunden noch hatten die Trolle sein ganzes Denken beherrscht. Nun fiel es ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. Immer wieder spähte er ins Zwielicht, das langsam den Strahlen der Morgensonne wich.
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