»Das ist lächerlich!«, begehrte Falrach auf.
»Du sollst schweigen!«, herrschte ihn Dalmag an.
Der Rudelführer hatte die Augen geschlossen und die Stirn ihn Falten gelegt. Er sah so aus, als bereite es ihm Qualen, den Gedankensprüngen des Kobolds zu folgen.
»Vergiss nicht, ehrwürdiger Gharub, die beiden sind Elfen. Sie sind die Fleisch gewordene Heimtücke. Nichts, was sie tun, geschieht ohne Hintersinn. Sicherlich hatten sie geplant, dich um dein Mahl zu betrügen. Aber dies ist noch der geringere Frevel. Viel schwerer wiegt der zweite Diebstahl, den sie begangen haben. Sie haben dir das Kostbarste gestohlen, was ein Herrscher besitzt. Etwas, das du nie wieder zurückerlangen kannst.«
Falrach beobachtete, wie der Trollfürst sich nachdenklich im Schritt kratzte. Oder überprüfte er, ob dort etwas fehlte?
»Was dir niemand mehr zurückgeben kann und was dir diese Elfe gestohlen hat, ist nichts Geringeres als Zeit! Du hättest hier in diesem prächtigen Saal sitzen können, essen und mit den Gefährten deiner heldenhaften Kämpfe plaudern können. Oder auf deinem Lager mit deinem Weib ruhen können, wie du es gerne tust zur Mittagsstunde.
Aber deine Zeit verrinnt. Fruchtlos, ohne Nutzen. Al ein durch die Schuld der Elfe Nandalee und ihres Buhlen.«
»Mit Verlaub, Rudelführer, doch ist es nicht das Geschwätz des Kobolds, das dir deine Zeit raubt?«
Endlich ergriff Emerelle die Initiative, dachte Falrach erleichtert. Sie war redegewandt.
Sie würde den Troll einlullen.
»Und schon wieder dauert diese Verhandlung etwas länger, weil die Elfe das Offensichtliche leugnet«, sagte Dalmag. Der Troll rieb sich über das Kinn. »Eine Zeitdiebin ...
Das ist heimtückisch. Man merkt es erst, wenn es zu spät ist, und selbst wenn man den Dieb fasst, kann man seine Zeit niemals zurückerlangen. Was ist die Strafe für Zeit-diebe?«
»Ich würde vorschlagen, es wie schweren Diebstahl zu behandeln, allermächtigster Gharub. Immerhin wurde der Herrscher von Feylanviek bestohlen. Dafür sollte ein Dieb seine rechte Hand verlieren.«
»So sei es! Hackt dem Weib die Hand ab. Und ihr Buhle soll dabei zusehen.«
Unter den Kobolden brach gehässiger Jubel aus.
»Tyrannei fällt stets auf den Despoten zurück.« Emerelles Worte waren trotz des Geschreis überdeutlich zu hören, ohne dass sie sonderlich laut gesprochen hätte. Sie umgab plötzlich eine Aura kalter Macht, die selbst Falrach unwillkürlich einen Schritt von ihr zurückweichen ließ.
Gharub wirkte erschrocken. Er wandte sich an den Kobold. »Was für ein Ei? Und von welchem Boten redet sie? Meint sie Madra?«
»Herr, sie benutzt Magie, um uns Angst zu machen.«
Der Trollführer atmete schwer. Deutlich war zu sehen, welche Überwindung es ihn kostete, seine Fassung zurückzuerlangen. »Pack sie und schneid ihr die Hand ab, Dalmag. Aber nicht hier! Bring sie fort!«
Adrien sah zu der kauernden Gestalt hinüber. Der Alte regte sich nicht. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand des Stalls. Die Beine hatte er angezogen. Neben ihm stand eine Bettlerschale. Er trug einen Hut mit breiter Krempe.
Undeutlich erkannte der Junge einige aus Blei gegossene Glücksbringer, die an das Hutband gesteckt waren.
Adrien drückte die Wurst. Sie gab nur wenig nach. Es war eine harte, eine gute Wurst.
Er würde zwei Tage lang nicht mehr hungern ... »Heh!«, rief er leise.
Der Bettler reagierte nicht.
Wind verfing sich heulend in den Dachtraufen der Schenke. Es war still auf der Straße.
Auf dem Weg hierher war ihm niemand begegnet. Auch der Fleischhauer war ihm nicht gefolgt. Ob dieser merkwürdige Betbruder ihn aufgehalten hatte? Nie mehr Hunger leiden ... Ob er dem Versprechen von Bruder Jules trauen konnte?
Adrien sah zu dem Bettler hinüber. Der würde nicht merken, ob an der Wurst ein Stück fehlte. Ob Bruder Jules ihn noch beobachtete? Nie mehr Hunger leiden ...
Entschlossen ging der Junge hinüber zu dem Bettler. Eine ausgemergelte, schwarze Katze, die hinter der kauenden Gestalt gehockt hatte, fauchte ihn an und lief dann eilig davon.
»Hallo ... « Schlief der Kerl? Adrien legte die Wurst in die Schale und kauerte sich neben dem alten Mann nieder. Die treibenden Wolken zerrissen. Wieder heulte der Wind unter der Traufe. Silbernes Mondlicht flutete über den verlassenen Hof der Schenke.
Der Kopf war dem Bettler auf die Brust gesunken, so als schliefe er. Adrien hob den Hut des Alten leicht an. Das Gesicht war eingefallen. In weiten Falten hing die Haut vom Schädelknochen. Der Mund stand offen. Nur drei dunkel verfärbte Zähne waren ihm geblieben. Die Augen waren aufgerissen, die Augäpfel nach oben verdreht. Sie starrten Adrien an und sahen ihn doch nicht. Der Alte war tot. Namenloses Entsetzen spiegelte sich in seinen Zügen.
Adrien fielen die Geschichten über den Widergänger ein. Er war ein Seelenfresser.
Allein sein Anblick vermochte zu töten. War der Bettler ihm begegnet?
Vorsichtig wich der Junge von dem Toten zurück. War der Widergänger vielleicht noch hier? War Bruder Jules in der Stadt, um das Ungeheuer zu jagen? Es hieß, Priester hätten die Macht, jene Kreaturen, die das Schwert nicht fürchteten, allein durch das Wort Gottes zu bannen.
Adrien hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Er drückte sich mit dem Rücken gegen die Mauer der Schenke. Drinnen war es stil . Zu dieser frühen Abendstunde! Es brannte nicht einmal Licht im Silberstrick. War der Widergänger jetzt dort? Der Junge malte sich aus, wie der Widergänger die Schenke betreten hatte und alle Gäste vor Schreck gestorben waren. Blickte das Ungeheuer vielleicht in diesem Augenblick aus einem der Fenster?
Er musste zu dem Priester an die Brücke. Der würde ihn beschützen, so wie er schon den Fleischhauer von ihm ferngehalten hatte. Adrien machte sich auf und davon.
Schlich wie ein Schatten durch die nächtliche Stadt. Einmal musste er den Nachtwächtern ausweichen, die nur noch zu zweit ihre Runde drehten.
Ihm war elend kalt. Seine Kleider waren noch durchnässt vom Schnee auf dem Dach der Räucherkammer. Mit der Nacht kam der Frost zurück. Der schmutzige Schneematsch gefror. Ihm stand der Atem in dichten Wolken vor dem Mund, und seine Füße waren taub vor Kälte. Je länger er marschierte, desto mehr Zweifel kamen ihm. Warum sollte der Priester ihm einen Gefallen tun? Wer tat einem Bettlerjungen einen Gefallen ohne Hintergedanken? Und woher wusste der Priester, dass es morgen Nacht einen Schneesturm geben würde? Das hatte er bestimmt nur gesagt, um ihm Angst zu machen. Aber wohin sonst könnte er gehen?
Die Straße fiel steil zum Fluss hin ab. Deutlich konnte er im Mondlicht die große, steinerne Brücke erkennen. Auf der anderen Seite lag das Rosstor. Auf dem zinnengekrönten Bollwerk brannte ein Wachfeuer in einem eisernen Korb, das den Reisenden den Weg zum südlichen Stadttor von Nantour und zu den Anlegestellen am Fluss wies.
Nahe beim Wasser kam es Adrien noch kälter vor. Ihm schlotterten die Glieder, so sehr er sich auch bemühte, gegen die Kälte anzukämpfen. Er hielt die Arme dicht vor der Brust verschränkt. Seine Hände strichen über die Ärmel seines klammen Hemds. Verdammter Winter!
Die steinerne Treppe hinab zu den Anlegeplätzen war vereist. Adrien stützte sich an der Mauer ab. Es war, als ginge er auf Holzklötzen. Er spürte nicht mal, wie seine Füße den Boden berührten. So schlimm war es noch nie gewesen.
Er blickte am gemauerten Ufer entlang. Unter dem Brückenbogen lag ein langes Flussboot. Der Priester war nicht zu sehen. Hatte er sich einen Scherz erlaubt? Der Junge war den Tränen nahe. Er war am Ende seiner Kräfte. Und es gab keinen warmen Platz für ihn in dieser Stadt. Er hatte schon Bettler gesehen, denen die Glieder abgefroren waren. Er wusste, was kommen würde. Hoffentlich wurde es so kalt, dass er einfach einschlief und nicht mehr erwachte. Das war besser, als mit brandigen Gliedern dahinzusiechen.
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