Liza sah ihn auf eine Art an, wie sie es früher nie getan hatte. Sie schielte dabei ein wenig. Die Jahre waren doch nicht ganz spurlos an ihr vorübergegangen. Plötzlich bleckte sie die Zähne. »Du bist immer noch ein Dummschwätzer, Nikodemus. Wie willst du ganz allein eine Sippe gründen?«
Er lächelte zurück. »Vielleicht gehe ich ja nicht ganz allein.« Er hob seine verstümmelte Hand. »Ideal wäre ein halb blindes oder schielendes Weib, das nicht sofort merkt, dass es sich mit mir beschädigte Ware einhandelt.«
»Ich schiele nicht«, sagte sie scharf.
»Dann ist wohl mit meinen Augen auch was nicht in Ordnung.«
Sie entspannte sich, und er riskierte es, ihre Arme loszulassen.
»Ich schiele nur ein wenig, wenn ich sehr wütend bin.« »Also doch oft!« Er grinste.
»Du bist frecher als früher.«
Er wagte es aufzustehen. »Noch ein Punkt, in dem ich mich verschlechtert habe.«
»Das finde ich nicht.« Sie setzte sich auf. Dabei sah sie ihn unverwandt an. Ihre Augen waren jung geblieben! »Und du meinst es ernst damit, eine neue Sippe zu gründen?«
»Todernst! Weißt du ... Ich möchte ein ganzes Rudel kleiner Fuchswelpen in die Welt setzen. Und wenn sie alt genug sind, dann möchte ich ihnen von Elija erzählen. Und von Ganda und Torkelschritt. Von Meister Gromjan, dem großartigsten griesgrämigen Lehrer, dem ich je begegnet bin. Und von Madra, einem Troll, der mein Freund war.
Habe ich dir je erzählt, dass ich auf einem Troll geritten bin?«
»Du bist ein Angeber.«
»Ja, da hast du wohl Recht. Aber wenn ich von ihnen erzähle, dann werden sie alle nicht vergebens gestorben sein. Sie werden in den Köpfen der Kleinen weiterleben.
Das ist alles, was wir für sie noch tun können. Wirst du mit mir kommen?«
»Ich bin vielleicht zu alt, um ein ganzes Rudel kleiner Lutin in die Welt zu setzen ...«
Er seufzte. »Ja, vielleicht.« Er sah sie lange an. Wartete darauf, dass sie noch irgendetwas sagte. Aber sie blieb stumm. Ihr Blick war in sich gekehrt. Schließlich gab er auf und ging zur Reling. Die Frachtschiffe im Hafen waren eng miteinander vertäut.
Zwischen ihnen lagen Laufplanken, über die man bis zu den Kais gelangen konnte.
»Nikodemus?«
Er blickte zurück. Sie war aufgestanden. »Ja?«
Liza bleckte die Zähne zu einem Lächeln. »Ich glaube, ich würde mir gerne anschauen, wie du versuchst eine wilde Hornschildechse zu fangen. Mehr verspreche ich dir nicht.
Außer vielleicht noch, dass ich die kümmerlichen Überreste der beschädigten Ware in der Steppe verscharren werde, wenn du so dämlich sein solltest, dich von einer Echse tottrampeln zu lassen.«
Madrog peilte über die Schiene des Torsionsgeschützes. An Deck der Prunkbarkasse herrschte Tumult. Er rieb sich zufrieden die Hände. Dann sah er sie. Skanga! Sie lebte.
Er hatte nicht sie getroffen. Wie hatte das passieren können? Wer war ihm in die Schussbahn gelaufen?
Jetzt kniete sich die Schamanin nieder. Andere Trolle verstellten ihm die Sicht auf sie.
Emerelle kam auch noch. Verflucht! Wen hatte er nur getroffen?
Unschlüssig blickte er auf die drei verbliebenen Steinkugeln. Ob Skanga ahnen würde, dass eigentlich sie das Ziel gewesen war? Und würde sie erraten, wer geschossen hatte? Jahre waren vergangen, seit sie die Shi-Handan hinter ihm hergehetzt hatte. Er hatte ihr das nie verziehen.
Noch einmal peilte er über das Geschütz. Es war unmöglich zu sagen, wann er noch einmal freies Schussfeld haben würde. Er sollte fliehen. Er legte seine Waffen ab. Alles, was ihn als Spinnenmann hätte verraten können. Nur ein Stiefelmesser behielt er.
Dann streifte er sich eine der albernen, bunten Jacken über, die so viele Kobolde zum Fest der Lichter trugen.
Er tätschelte zum Abschied das Geschütz. »Deine Schuld war es nicht.«
Eilig stieg er die Leiter hinab. Am Grund des Verstecks angekommen, spähte er durch ein Astloch. Unglaublich, wie viele Albenkinder sich da draußen drängten. Er spürte ihre Unruhe. Keiner wusste, was auf der Prunkbarkasse geschehen war.
Er schob die Tür in der Kistenseite auf. Ein Faun blickte verwundert auf ihn hinab.
»Ein wunderbar trockener Platz zum Schlafen«, sagte Madrog freundlich lächelnd.
Dann schob er sich in die Menge. Er wurde eins mit ihr. Diskutierte über die geheimnisvollen Vorfälle auf der Prunkbarkasse, rief Emerelles Namen und entfernte sich immer weiter von dem Kistenstapel. Eine dunkel gekleidete Elfe erregte seine Aufmerksamkeit. Sie hatte ihr Haar zu einem strengen Zopf zurückgebunden. Ihr Gesicht war mit dem Saft des Dinko-Buschs bemalt. Eine Maurawani. Ob sie gesehen hatte, von wo der Schuss gekommen war? Das war fast unmöglich! Aber sie bewegte sich auf den Kistenstapel zu. Andere Elfen folgten ihr. Gut, dass er fort war!
Emerelle trat an die Reling der Prunkbarkasse. Schmetterlinge und Glühwürmchen umschwirrten sie. Albern! Aber irgendwie schaffte sie es, gut dabei auszusehen. Sie breitete die Arme aus, und die unruhige Menge verstummte.
»König Gilmarak wurde verletzt, aber er wird sich von seiner Verwundung erholen! Er wurde nicht wiedergewählt. Drei Fürsten stimmten für ihn. Drei gegen ihn. Einer enthielt sich. Nun wird ein zweites Mal gewählt. Dieses Mal werden sie über mich entscheiden.«
»Emerelle!«, blökte ein unüberhörbar angetrunkener Minotaur.
»Emerelle!« Andere fielen ein, und bald riefen Tausende.
Auch Madrog hüpfte auf und nieder, winkte mit beiden Armen und schrie sich die Lunge aus dem Leib. »Emerelle! Emerelle!« Bloß nicht auffallen, solange diese Maurawani durch die Menge schlich. Hoffentlich gewann Emerelle die Wahl.
Anschließend begann das Lichterspektakel, und die Menge würde sich in den Straßen der Stadt verteilen. Dann konnte er entkommen.
Jules sah schon von weitem, dass etwas mit Adrien nicht stimmte. Der Junge hing so unglaublich schief im Sattel, wie er es selbst am ersten Tag seines Reitunterrichts nicht getan hatte. Der Wanderprediger begann zu laufen.
Adrien kam von Cabezans Palast. Er ritt ihm auf dem Weg entgegen, der in die Weinberge führte. Er sah aus, als hätte er mit der ganzen Leibwache des Tyrannen gekämpft. Wie war es möglich, dass er verwundet war?
Blut lief an der Flanke des Schimmels hinab. Es kam von irgendwo unter Adriens Umhang.
Jules packte nach den Zügeln des Pferdes und schob den Jungen wieder in eine aufrechtere Haltung. »Erkennst du mich nicht?«
Die Augen hinter der silbernen Helmmaske blinzelten. »Elodia?«
Der Junge fantasierte. Jules sah sich verzweifelt um. Er brauchte einen Platz, wo er seinen Sohn versorgen konnte. Es roch nach Regen. Wenn er Adrien helfen wollte, dann durfte er nicht hier draußen bleiben!
Nicht weit entfernt brannte in einer Hütte ein Licht. Wer immer dort lebte, er würde ihn hinaus in die Nacht jagen! Er nahm das Pferd beim Zügel und zog es hinter sich her. Immer wieder blickte er zurück, besorgt, dass der Junge aus dem Sattel fallen könnte.
Eine Frau kam den Weg hinabgelaufen. Sie war zu gut gekleidet, um eine Weinbäuerin zu sein!
»Adrien!«
Jules stieß einen Stoßseufzer aus. Hatte der Junge denn alles vergessen? Wie konnte er dem ersten dahergelaufenen Weib, in deren Bett er stieg, seinen wahren Namen nennen! So viele Jahre hatte er ihm eingeschärft, dass er Michel Sarti war!
»Adrien!« Sie klammerte sich an einen seiner Stiefel. »Dem Jungen wäre sehr geholfen, wenn du ihn nicht aus dem Sattel schmeißt.« »Wer bist du, Priester?«
»Bruder Jules. Sein alter Lehrmeister. Gibt es dort oben in der Hütte ein Bett?« »Ja.«
»Gut.«
Adrien bewegte die Lippen, aber es war unmöglich, zu verstehen, was er sagte. Es war eine Hilfe, dass sie ihn hielt. So musste er sich nicht mehr dauernd umdrehen, und sie kamen schneller voran.
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