Aber der Lutin hatte in den langen Jahren des Kampfes um die Macht seinen Weg verloren.
»Du kannst doch nicht einfach alles zerstören, Anderan! So kurz vor dem Ziel!
Bedeutet dir die Freiheit der Koboldvölker von jeglicher Tyrannei denn gar nichts mehr?«
»Es bedeutet mir alles. Deshalb werden wir beide hier sterben.« Das Wasser drang auf den Balkon. »Ich rette Albenmark vor unserer Tyrannei. Und ich rette all deine guten Werke.«
»Du Narr!« Elija packte ihn. »Jetzt öffne endlich die Tore! Es muss eine Möglichkeit geben! Wenn das Wasser nicht mehr abfließen kann, würdest du deine geliebten Kanäle zerstören. Das würdest du niemals tun.«
Anderan bewunderte ihn für seinen klaren Verstand, selbst jetzt im Angesicht des Todes. »Es stimmt, ich würde diese Kanäle niemals zerstören. Ich bin der Herr der Wasser, ihr Hüter. Wenn der Saal vollgelaufen ist, wird sich das Wasser in den Zuflüssen zurückstauen. Nach einer Zeit öffnet sich dann eine Überlaufschleuse. Wir werden dann längst ertrunken sein. Der Strom des abfließenden Wassers wird uns weit hinaus in die Mangroven tragen, wo unsere Kadaver zum Fraß der Winkerkrabben werden.« Das Wasser reichte ihnen beiden jetzt bis über die Hüften. »Wir werden niemals gefunden werden. Deine Leibwächter werden geheim halten, was geschehen ist. Sie werden nicht die Geschichte ihres eigenen Versagens verbreiten. Weil wir auf so geheimnisvolle Weise am Tag der Königswahl verschwunden sind, wird die Erinnerung an uns weiterleben, Elija. Das ist mein Geschenk an dich, den Mörder meines Sohnes. Ich hätte dich als König vor ein Gericht stellen können. Doch mit deiner Verurteilung wäre alles untergegangen, was du Gutes bewirkt hast. Du warst auf dem richtigen Weg. Und ich habe nicht bemerkt, wann du ihn verloren hast.«
Das Wasser hob Anderan empor. Er kämpfte nicht dagegen an. Er ließ sich treiben.
Elija streifte seinen Ledermantel ab und die Stiefel. Er begann zu schwimmen.
Das Wasser war eisig. Anderan spürte, wie es seinem Körper langsam die Wärme des Lebens entzog. Immer schneller füllte sich der Saal. Die Barinsteine der Kuppel waren schon fast zum Greifen nahe.
»Du hast Albenmark der Willkür der Trolle ausgeliefert!«, schrie Elija.
Der Herr der Wasser dachte an den langen Brief, den er den Maurawan zugespielt hatte. Den Brief, in dem alles beschrieben war. Wer zur Königswahl berufen war, wo die Geschütze am Hafen verborgen standen, welche Intrigen Elija gesponnen hatte.
Selbst wenn die Maurawan nicht nach der Macht griffen, standen jetzt die Stimmen von Katander, Nestheus und Alvias gegen nur zwei Trolle. Nein, die Herrschaft der Trolle war vorüber. Er hatte alles bedacht. Er konnte jetzt in Frieden gehen.
Der strahlend helle Barinstein, der in der Mitte der Kuppel in die Decke eingelassen war, befand sich nun direkt über ihm. Als er ein Kind gewesen war, hatte er davon geträumt, den unerreichbaren Stein eines Tages zu berühren. Er hatte ihm sogar einen Namen gegeben. Regenbo-genstein. Sein Licht war das stärkste. In seiner Vorstellung war es vor allem dieser Barinstein gewesen, der die Regenbögen zwischen die Wasserkaskaden zauberte. Er hatte sich ausgemalt, dass dem, der es schaffte, diesen unerreichbaren Stein zu berühren, alle Wünsche in Erfüllung gingen. Anderan streckte die Hand nach dem Stein aus. Er fühlte sich warm an. Angenehm.
Das Wasser stand nur noch wenige Handbreit unter dem Zenit der Kuppel. Elija kämpfte noch immer darum, den Kopf über Wasser zu halten. Er würde niemals aufgeben. Das war nicht seine Art.
Anderan stieß sich mit beiden Armen vom großen Barinstein ab. Dann atmete er aus.
Er sah den Silberkugeln nach, die dem Licht entgegenstrebten. Er nahm all seinen Mut zusammen. Er war der Herr der Wasser. Er würde nicht kämpfen. Er würde sich ihm öffnen. Er atmete ein. Eisiges Wasser füllte seine Lungen.
Mit ausgebreiteten Armen ließ er sich sinken. Vorbei an goldenen Vogelköpfen. Dem Dunkel entgegen. Tiefer Frieden überkam ihn.
Silwyna lugte vorsichtig über den Mauerrand hinweg. Es war geschafft. Die Geschütze auf der anderen Seite waren endlich zum Schweigen gebracht. Sie betrachtete die Überlebenden ihrer kleinen Schar. Niemand war unverwundet.
»Haltet euch weiterhin von den Fenstern fern«, sagte sie ruhig. »Es sind noch etliche Armbrustschützen auf den Dächern.« Aber ihre Waffen würden nicht bis zur Prunkbarkasse reichen. Die Schlacht war entschieden. Jetzt lag es nur noch an Falrach. Ihr Fürst war sich ganz sicher gewesen, dass er die Wahl gewinnen würde. Warum, das hatte er auch ihr nicht verraten. Er war ein seltsamer Mann. Unergründlich.
»Silwyna!« Fenryl hatte sich schon eine Weile an den Kisten zu schaffen gemacht. Jetzt winkte er ihr mit einem Blatt Papier. »Das musst du sehen! Es ist noch nicht vorbei. Es ist…«
Ärgerlich ging sie zu ihm hinüber. »Was hast du da?«
»Eine Frachtliste. Sie lag in einer der Kisten. Die Geschütze stammen von den Hafenbefestigungen in Meliamer. Ein Kobold hat sie angefertigt. Er war sehr verärgert, dass man ihm seine Geschütze wegnahm. Jetzt sieh dir einmal an, was dort steht.«
Silwyna stand nicht der Sinn nach irgendwelchen Listen von Buchhaltern. Sie wollte sehen, was an Bord der Prunkbarkasse geschah. Vielleicht sol te sie die Geschütze hier oben wieder gefechtsbereit machen lassen. Sie sah zu den ordentlich geschichteten Haufen aus Steinkugeln. Wer immer den Transport hierher organisiert hatte, er hatte dafür gesorgt, dass reichlich Munition vorhanden war.
»Silwyna!«
Sie sah sich das Papier an. Fenryl deutete auf die letzte Zeile.
».. bestätige ich hiermit die Leihgabe von dreizehn Torsionsgeschützen an den Hafen von Vahan Calyd.«
»Dreizehn! Es muss noch irgendwo eins geben. Eins, von dem wir nichts wissen! Eins, das den Ausgang der Königswahl mit einem einzigen Hebelruck verändern kann.
Falrach ist in höchster Gefahr!«
Silwyna trat ans nächste Fenster. Ohne auf ihre Deckung zu achten, blickte sie auf das weite Hafenrund. Sechs Palasttürme lagen in einer Entfernung zur Prunkbarkasse, die einen zielsicheren Schuss erlaubte. Es gab Hunderte von Fenstern, hintern denen sich das Geschütz verbergen konnte. Ganz zu schweigen von den Terrassen und Baikonen. Dutzende Häuser waren hoch genug, dass man das Geschütz auf ihr Dach hätte stellen können. Allein auf den ersten Blick sah sie sieben Schiffe, die die Prunkbarkasse überragten und ein freies Schussfeld auf ihr Deck hatten.
Ein Armbrustbolzen verfehlte sie um Armeslänge und schlug in die Rückwand des Saals ein. Sie duckte sich und betrachtete weiter den Hafen.
»Was sollen wir tun?«, drängte Fenryl.
»Ruhe bewahren und gut nachdenken.« Wo würde sie das Geschütz aufstellen, wenn sie ganz sicher sein wollte, dass es nicht entdeckt wurde?
Skanga hörte den Tumult und trat an die Reling. Die wogenden Auren von Hunderten Schaulustigen im Hafen vereinigten sich einem vielfarbigen Leuchten ohne Konturen.
Sie musste den Blick abwenden.
»Da unten steht Ollowain«, flüsterte Birga ihr ins Ohr.
»Das kann nicht sein«, fuhr sie ihre Schülerin an. »Das ist ... « Sie musste sich selbst überzeugen. »Er soll hochkommen!«
Birga rief den Wachposten etwas zu. Augenblicke später war der Elf an Bord. »Alvias und die beiden Kentauren starren ihn an.«
Skanga blickte zu den drei Fürsten. In ihren Auren spiegelte sich Überraschung. Die Ankunft des Elfen war also zumindest nicht Teil eines Komplotts, in das die drei mit verwickelt wären.
»Ollowain«, sagte sie forschend. Etwas an der Aura des Elfen war seltsam. Sie war durch ein leichtes Flackern gestört. Als sei da noch ein zweites Licht, das durch die kraftvolle Ausstrahlung des Elfen überlagert wurde.
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