»Was willst du hier?«
»Der Königswahl beiwohnen.«
Nicht die kleinste Spur vom Blau der Furcht zeigte sich in dem Licht, das ihn umgab.
»Er ist unbewaffnet, wie es scheint«, flüsterte Birga ihr zu.
Manchmal war ihre Schülerin in der Tat nützlich!
Skanga hatte davon gehört, dass die Maurawan ihn zu ihrem Fürsten gemacht hatten.
Zunächst war sie darüber verwundert gewesen. Aber jetzt lag klar auf der Hand, was er vorhatte. »Du machst dir Hoffnungen, König von Albenmark zu werden?«
»Zunächst einmal bin ich nur Gast bei der Königswahl«, entgegnete er höflich.
Die Schamanin blickte zu der Festtafel. Alle waren zugegen. Nur die beiden verdammten Kobolde fehlten noch! Wo steckten sie nur? In der Ferne erklangen Rufe.
Ein Name. Er war nur undeutlich zu hören.
»Siehst du die Kobolde?«
Birga streckte sich. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Nein, Herrin«, sagte sie schließlich.
Die Schamanin massierte mit Daumen und Zeigefinger ihre blinden Augen. Was ging da vor sich? Waren die beiden abgefangen worden, um der Wahl einen anderen Verlauf zu geben? Sie hatte so etwas befürchtet. Sie hätte niemals zustimmen dürfen, dass Feinde Gilmaraks zu den Fürsten gehörten, die über die Wiederwahl des Königs entschieden.
Sie blickte über das Deck. »Alle anderen sind da?«
»Ja«, entgegnete Birga. »Nur der Fuchskopf und der Herr der Wasser fehlen.«
Damit war der gesamte Kronrat versammelt. Sie konnte das Blatt noch wenden. »Als Sprecherin des Kronrates möchte ich vorschlagen, Elija Glops und Anderan von Vahan Calyd das Stimmrecht für die Königswahl zu entreißen, da sie immer noch nicht hier sind. Will dem jemand widersprechen?«
Sie sah Ärger und Sorge in den Auren der anwesenden Kobolde. Aber niemand erhob seine Stimme gegen sie. Ollowain schien immer noch ganz gelassen. In Gilmaraks Aura hingegen spiegelte sich seine Sorge. Er stand ein Stück entfernt von ihr am Kopf der großen Tafel. Alle verharrten in feierlicher Starre und erwarteten, dass die Königswahl begann.
»Da die Wahl noch nicht begonnen hat, möchte ich zwei neue Fürsten als Ersatz vorschlagen. Herzog Growak vom Blutberg und Herzog Orgrim von der Nachtzinne.«
Skanga tastete nach dem Albenstein, den sie zwischen ihren Amuletten verborgen trug, und legte die Macht der Furcht in ihre Worte. »Möchte jemand dagegen etwas einwenden?«
Sie sah, wie sich die Auren der Anwesenden wandelten. Selbst bei Ollowain entdeckte sie eine Spur Blau.
»So hat der Kronrat nun also einstimmig beschlossen, zwei neue Fürsten zur Königswahl zuzulassen. Möge die Wahl beginnen!«
Gilmarak trat an ihre Seite. »Danke«, flüsterte er ihr zu.
Skanga seufzte. Könige bedankten sich nicht! Später am Abend, wenn ihnen niemand zuhörte, würde sie ihn zurechtweisen. »Bleib hier und sei unbesorgt! Zeige ihnen Macht und Würde!«
Das Raunen, das ihr vorhin schon aufgefallen war, hatte nun den Hafen erreicht.
Immer mehr der Feiernden dort unten riefen einen Namen. Ihren Namen. Emerelle!
Atemlose Stille lag über der Prunkbarkasse. Skanga blickte über den Hafen. Diese Aura war unverwechselbar. Ein weißgoldenes Licht, so stark, dass es in ihren blinden Augen schmerzte. Aber sie kam zu spät! Sie schwebte über der Menge. Wahrscheinlich saß sie auf einem Pferd.
Sie kam zu spät, sagte sich Skanga noch einmal. »Die Königswahl kann beginnen!«
»Emerelle! Emerelle!«, erklang ein tausendfacher Ruf. Warum jubelte das Volk ihr zu?
Sie war jahrelang einfach verschwunden gewesen!
»Nestheus!« Skanga legte erneut Magie in ihre Stimme, um das Lärmen zu übertönen.
»Ich stimme gegen Gilmarak!«, sagte der Kentaur laut und deutlich.
»Sie sieht eindrucksvoll aus«, flüsterte Birga ihr ins Ohr. »Sie trägt ein Kleid aus Schmetterlingen und lebendem Licht. So etwas habe ich noch nie gesehen.«
Billige Tricks, mit denen Emerelle den Pöbel beeindruckte, dachte Skanga ärgerlich.
Das könnte sie auch, wenn sie es nur wollte. Aber es war erbärmlich, sich derart anzubiedern!
»Snaif vom Mordstein!«, rief sie.
»Für Gilmarak«, sagte der Trollherzog mit tiefer Stimme.
Plötzlich verebbte der Jubel.
»Sie hat nur die Arme ausgebreitet, und sie schweigen«, flüsterte Birga.
»Fauler Zauber«, zischte Skanga ärgerlich.
»Nein, ich glaube nicht, dass sie zaubert.«
Stille lag über dem Hafen. Skanga sah, wie die Wachen am Aufgang zum Schiff ehrfürchtig vor Emerelle zurückwichen. Sie konnte die Elfe nicht ansehen, so sehr brannte das Licht ihrer Aura in ihren Augen. Jetzt hatte wohl jeder den Eindruck, dass sie vor Emerelle das Haupt beugte, dachte sie wütend.
»Katander, Fürst von Uttika.«
»Ich stimme gegen den Troll Gilmarak.«
Die Stimmen waren nun deutlich zu hören. Wie weit sie wohl über den Hafen hinaus trugen? Die Menge blickte mit angehaltenem Atem auf das Schiff.
Emerelle stellte sich schweigend neben Ollowain. Wohin auch sonst! Verwundert betrachtete Skanga die Aura des Elfen. Er wirkte überrascht. Was hatte das alles zu bedeuten?
»Derg, Herzog der Wolfsgrube!«
»Für Gilmarak, meinen König!«
Skanga blickte wieder zu Emerelle. »Du weißt, dass es verboten ist, den freien Willen der Fürsten durch Magie zu beeinflussen.«
»Sie neigt ihr Haupt vor dir«, flüsterte Birga. Ein Raunen ging durch die Menge auf den Kais. »Das sah ganz so aus, als wolle sie sich dir unterwerfen, Skanga.«
Das würde sie niemals tun, dachte die alte Schamanin. Aber jetzt war wichtiger, was das Volk dachte.
»Alvias!« Was für ein Fürst war er auch gleich? Egal...
»Ich stimme gegen die Barbarei und somit gegen Gilmarak.«
Skanga spürte, wie sich der Trollkönig neben ihr spannte. »Ruhig, lass dich nicht von Emerelles Speichellecker erzürnen.«
»Growak, Herzog vom Blutberg!«
»Für Gilmarak, den Drachentöter!«
Etwas zu viel des Guten, dachte Skanga. Aber Growak war noch nie der Hellste gewesen. Einen Gelgerok zu erlegen, war keine Kleinigkeit. Aber Drachen waren doch etwas anderes! Nun gab es also drei Stimmen für Gilmarak und drei gegen ihn. Skanga blickte zu Orgrim und lächelte. Die Sache war entschieden.
»Orgrim, Herzog der Nachtzinne. Deine Stimme!«
Madrog peilte über sein Geschütz. Ganz deutlich konnte er ihren Kopf sehen! Und sie bewegten sich fast gar nicht. Er dachte an die zerplatzte Melone. Schade, dass er nicht sehen könnte, wie es geschah. Für diejenigen, die in ih rer Nähe standen, würde es gewiss ein unvergessliches Erlebnis.
Er kniete nieder und nahm jede einzelne der verbliebenen Steinkugeln in die Hand. Er entschied sich für die dritte. Bald wäre die Wahl vorüber. Noch einmal peilte er über die Führungsschiene des Torsionsgeschützes. Er blickte zu der Markierung, die ihm den Tidenhub anzeigte. Dann rief er sich das Raster in Erinnerung, in das der Hafen unterteilt war. Er suchte nach den Referenzmarkierungen und berechnete die Entfernung. Er korrigierte den Neigungswinkel des Geschützes leicht.
Ihm war klar, dass etwas grundlegend anders verlief, als Elija es geplant hatte. Dass die beiden Kobolde nicht auf der Prunkbarkasse erschienen waren, konnte eigentlich nur bedeuten, dass sie tot waren.
Er peilte ein letztes Mal nach ihrem Kopf. Sie hatten sich kaum bewegt. Alle standen sie auf ihren Plätzen wie angeklebt. Gut so! Er legte die Kugel auf die Führungsschiene. Jetzt konnte er sein Ziel nicht mehr sehen.
Er legte die Hand auf den Abzugshebel. Der Lauf der Geschichte würde sich ändern.
Er legte den Hebel um.
Wie ein Hammerschlag auf Fleisch
»Orgrim, Herzog der Nachtzinne. Deine Stimme!« Emerelle hielt den Atem an.
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