»Ja, bald«, sagte Richard abwesend.
Sie machte sich erneut auf den Weg. »Ich bin bei unserem Volk, wenn du bereit für mich bist.«
Der gesamte Stamm der Baka Ban Mana hatte hinter ihnen sein Lager aufgeschlagen. Tausende und Abertausende von Zelten verteilten sich über die Hügel — wie Pilze nach einem monatelangen Regen. Er hatte ihnen nicht ausreden können mitzukommen, hatte sie nicht überzeugen können abzuwarten, und so waren sie alle hier bei ihm.
Richard seufzte. Was machte das schon für einen Unterschied? Wenn er sich irrte und die Sache fehlschlug, brauchte er sich nicht darum zu sorgen, ob die Baka Ban Mana von ihm enttäuscht waren. Denn dann würde er tot sein.
Warren und Schwester Verna näherten sich leise von hinten.
»Richard«, fragte Warren, »können wir mit dir reden?«
Richard starrte weiter hinaus in die Stürme. »Natürlich, Warren.« Er sah sich kurz um. »Was hast du auf dem Herzen?«
Warren schob die Hände in den jeweils anderen Ärmel seiner Robe. Richard fand, daß er durchaus wie ein Zauberer aussah, wenn er das tat. Eines Tages würde Warren das verkörpern, was Richard sich unter einem idealen Zauberer vorstellte: Weisheit, Einfühlungsvermögen und ein Wissen, über das Richard nur staunen konnte. Vorausgesetzt, sie kamen hier nicht alle um.
»Also, Schwester Verna und ich haben miteinander gesprochen. Über das, was geschieht, wenn du durch das Tal hindurch bist. Ich weiß, was du vorhast, Richard, aber unsere Zeit ist knapp. Wir hatten von Anfang an nicht genügend Zeit. Morgen ist die Wintersonnenwende. Es ist unmöglich.«
»Nichts ist nur deshalb unmöglich, weil man nicht weiß, wie man es anstellen soll.«
»Das verstehe ich nicht.«
Richard lächelte die beiden an. »Das werdet ihr noch. In ein paar Stunden werdet ihr es verstehen.«
Warren blickte fort, ins Tal. Er kratzte sich ruhig an der Nase. »Wenn du es sagst, Richard.«
Schwester Verna schwieg. Richard fiel es noch immer schwer, sich daran zu gewöhnen, daß sie nicht mehr widersprach, sobald er sich unklar ausdrückte. Vielleicht hätte sie es doch gern getan.
»Warren, diese Prophezeiung, in der es um das Tor und die Wintersonnenwende geht. Bist du sicher, daß diese Wintersonnenwende gemeint war?« Warren nickte. »Und angenommen, es gibt einen Agenten, dazu ein geöffnetes Kästchen der Ordnung sowie den Skrinknochen, sind das die einzigen Elemente, die benötigt werden, um das Tor zu öffnen und den Schleier zu zerreißen?«
Ein heißer Windhauch fuhr in Warrens Haar. »Ja … aber du hast mir doch erzählt, Darken Rahl sei tot. Es gibt keinen Agenten.«
Es war eher eine besorgte Frage als eine Feststellung.
»Muß der Agent lebendig sein?« fragte Schwester Verna.
Warren verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß. »Nun, prinzipiell vermutlich nicht. Vorausgesetzt, man hätte ihn irgendwie in diese Welt zurückgerufen. Aber ich wüßte nicht, wie man das hätte bewerkstelligen sollen. Aber wenn, dann wäre das alles, was man brauchte.«
Richard seufzte frustriert. »Und dann könnte dieser Agent das tun, was auch ein lebendiger Agent tun würde?«
Warren kam ein Verdacht. »Ja und nein. Man brauchte ein weiteres Element. Ein Geist kann die körperlichen Bedingungen nicht erfüllen, um das Bündnis zu vollziehen. Er braucht einen Gehilfen.«
»Du meinst, der Geist könnte bestimmte notwendige Aufgaben nicht erfüllen, deshalb braucht er Gehilfen, die in dieser Welt handlungsfähig sind.«
»Ja. Mit einem Helfer könnte ein Geist das tun, was nötig ist. Aber wie könnte ein Geist in die Welt zurückgerufen worden sein? Ich wüßte nicht, wie man das machen soll.«
Schwester Verna wandte den Blick ab. »Es wäre besser, du sagst es ihm.«
Richard zog sein Hemd hoch und zeigte Warren die Narbe. »Darken Rahl hat mich mit seiner Hand verbrannt, als ich ihn versehentlich in diese Welt zurückgerufen habe. Er meinte, er sei gekommen, um den Schleier zu zerreißen.«
Warren starrte ihn mit großen Augen an. Sein besorgter Blick fuhr hinüber zu Schwester Verna, dann zurück zu Richard. »Wenn Darken Rahl ein Agent ist, wie du sagst, und er jemanden hat, der ihm hilft, dann fehlt nur noch ein Element zur völligen Vernichtung — der Skrinknochen. Das müssen wir wissen.«
Richard schob das Mriswith-Cape auf seine Schulter zurück. »Schwester Verna, würdet Ihr mir helfen?«
»Was soll ich tun?«
»Als Ihr mir zum ersten Mal erklärt habt, wie ich versuchen soll, mein Han zu berühren, beschloß ich, mich auf ein geistiges Bild meines Schwertes zu konzentrieren. Aber damals, beim ersten Mal, habe ich einen Hintergrund benutzt, etwas aus dem magischen Buch, von dem ich Euch erzählt habe. Dem Buch der Gezählten Schatten.
Als ich versuchte, mein Han mit Hilfe des Schwertes vor diesem Hintergrund zu berühren, ist etwas passiert. Irgendwie war ich plötzlich in D’Hara, im Palast des Volkes, dort, wo sich die Kästchen befinden. Ich sah Darken Rahl. Er sah mich ebenfalls und sprach zu mir. Er meinte, er hätte auf mich gewartet.«
Schwester Verna zog die Brauen hoch. »Ist das später jemals wieder passiert?«
»Nein. Es hat mich fast um den Verstand gebracht vor Angst. Ich habe den Hintergrund nie wieder benutzt. Ich denke, wenn ich den Hintergrund jetzt wieder benutze, kann ich vielleicht erkennen, was dort geschieht.«
Sie faltete die Hände vor ihrem Körper. »So etwas habe ich noch nie gehört. Aber möglicherweise hat es etwas mit der Magie der Ordnung zu tun. Es wäre nicht das erste Mal, daß du mich überraschst. Es könnte Wirklichkeit sein oder auch nur eine Befürchtung, wie in einem Traum.«
»Ich muß es versuchen. Setzt Ihr Euch zu mir? Ich habe Angst, nicht wieder herauszukommen.«
»Natürlich, Richard.« Sie setzte sich auf die Erde und hielt eine Hand in die Höhe. »Komm. Ich werde dir beistehen.«
Richard zog das Mriswith-Cape um sich, setzte sich und schlug die Beine übereinander. »Dieses Cape verbirgt mein Han, vielleicht kann mich Darken Rahl dann auch nicht sehen.«
Richard entspannte sich, während er Schwester Vernas Hände hielt. Er konzentrierte sich auf das geistige Bild des Schwertes vor dem schwarzen Hintergrund mit der weißen Umrandung, genau wie beim ersten Mal. Als er sich konzentrierte, den ruhigen Mittelpunkt suchte, geschah etwas.
Das Schwert, das schwarze Rechteck und der weiße Rand begannen zu flirren, als betrachtete man sie durch Hitzeschlieren — genau wie beim ersten Mal. Die klaren Umrisse des Schwertes lösten sich auf, es wurde durchsichtig und verschwand schließlich ganz. Der Hintergrund löste sich auf. Richard blickte wieder in den Garten des Lebens im Palast des Volkes.
Er ließ den Blick über das verschleierte Bild schweifen und sah weiße Knochen an der Stelle, wo er zuvor die verkohlten Leichen gesehen hatte. Er erinnerte sich, daß die Leichen auf der niedrigen Mauer gelegen hatten, im Gebüsch und im Gras verteilt. Sie lagen größtenteils noch so da wie in seiner Erinnerung, nur waren es jetzt blanke Knochen.
Richard sah die weiße, leuchtende Gestalt Darken Rahls. Doch stand er nicht vor dem steinernen Altar, nicht vor den drei Kästchen der Ordnung. Er stand neben dem Rund, das weißen Sand enthielt. Als er diese Vision beim ersten Mal hatte, war der weiße Sand noch nicht dagewesen.
Eine Frau in einem langen, braunen Rock und einer weißen Bluse kniete zu Darken Rahls Füßen und beugte sich über den Kreis aus weißem Sand. Richard wünschte sich näher heran. Sie zeichnete Linien in den weißen, glitzernden Zauberersand. Richard erkannte einige der Symbole wieder, die sie zeichnete. Als Darken Rahl damals das Kästchen geöffnet hatte, hatte er sie noch selbst gezeichnet.
Richard beobachtete, wie die Frau ihre Hand langsam und mit Bedacht bewegte und die Linien der Banne zog. Ihm fiel auf, daß an ihrer rechten Hand der kleine Finger fehlte.
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