Richard wandte sich wieder dem Reisebuch zu und fuhr fort: »›Ein Zauberer muss sich selbst kennen, sonst läuft er Gefahr, eine unheilvolle Magie zu bewirken, die seinem eigenen freien Willen zuwiderläuft.‹ Hier spricht er von den schöpferischen Aspekten der Magie jenseits ihres eigentlichen Gefüges. ›Magie investiert und bündelt Leidenschaften, sie stärkt nicht nur Empfindungen wie Freude, sondern auch ins Verderben führende Leidenschaften, die auf diese Weise zu Obsessionen werden können.‹«
»Klingt, als wollte er den Hang zu Zerstörung rechtfertigen«, warf sie ein.
»Das denke ich nicht. Ich glaube, er ist einer wichtigen Sache auf der Spur, einer höheren Ausgewogenheit sozusagen.«
Kahlan, die offenkundig nicht begriff, was er sah, schüttelte den Kopf. Da er jedoch nicht wusste, wie er es ihr näher bringen sollte, fuhr er fort: »Was jetzt kommt, ist wichtig. ›Phantasie macht einen großen Zauberer aus, denn mit ihrer Hilfe kann er die Grenzen der Tradition überschreiten, das Gefüge des gegenwärtig Bestehenden verlassen und in den Bereich der Erschaffung des eigentlichen Stoffes der Magie eintreten.‹«
»Das war es, wovon du gesprochen hast? Dass er es für eine – eine Kunstform hält, ein Ausdrucksmittel? Als sei er der Schöpfer persönlich – der aus dem Nichts ein Gewebe der Magie herstellt?«
»Genau. Aber hör dir das an. Ich glaube, dies ist das Wichtigste, was Joseph Ander zu sagen hat. Als die Chimären kein Problem mehr waren, fragten die anderen Zauberer vorsichtig nach, was er getan habe. Man hört ihren Worten beinahe an, wie besorgt sie waren. Dies ist die knappe Antwort auf ihre Frage, was mit den Chimären geschehen sei. ›Eine Huldigung kann in Abhängigkeit zu einem schöpferischen Bann entstehen.‹«
Kahlan rieb sich die Arme, die Antwort hatte sie sichtlich verwirrt. »Bei den Gütigen Seelen, was hat denn das nun wieder zu bedeuten?«
Richard beugte sich ganz nah zu ihr. »Ich glaube, es bedeutet, dass er etwas ersonnen hat – eine neue Magie außerhalb der Parameter des ursprünglichen Zaubers, mit dessen Hilfe die Chimären in diese Welt gelangt waren. Eine Magie, die genau der Situation angepasst war und ihm selbst.
Mit anderen Worten, Joseph Anders wurde schöpferisch tätig.«
Kahlans grüne Augen wanderten ziellos umher. Er wusste, sie versuchte zu ergründen, wie tief die geistigen Verirrungen reichten, mit denen sie es hier zu tun hatten. Dies war der Wahnsinnige, dem sie letztendlich die Chimären zu verdanken hatten.
»Die Welt bricht auseinander«, meinte sie leise bei sich, »und du redest davon, dass Joseph Ander die Magie wie eine Kunstform benutzt hat?«
»Ich erzähle dir lediglich, was dieser Mann geschrieben hat.« Richard wandte sich der letzten Seite zu. »Ich habe einiges übersprungen. Ich wollte sehen, was er den Zauberern ganz zum Schluss aufgeschrieben hat.«
Richard ging die Worte auf Hoch-D’Haran noch einmal durch, um sich der Übersetzung sicher zu sein, dann las er Joseph Anders Worte vor.
»›Schließlich gelangte ich zu dem Schluss, dass ich sowohl Schöpfer als auch Hüter verwerfen muss. Stattdessen schaffe ich meine eigene Lösung, meine eigene Wiedergeburt und meinen eigenen Tod, und indem ich dies tue, werde ich mein Volk für alle Zeiten beschützen. Daher lebt wohl, denn ich werde meinen unsterblichen Geist aufgewühlten Wassern übergeben und auf diese Weise für alle Zeiten über das wachen, was ich mit so viel Sorgfalt gestaltet habe und das jetzt gesichert ist und unantastbar.‹«
Richard blickte auf. »Siehst du es jetzt? Verstehst du?« Er sah, dass sie es nicht verstand. »Ich glaube, Kahlan, er hat die Chimären gar nicht verbannt, wie er sollte. Ich glaube, er hat sie stattdessen für sein eigenen Zwecke benutzt.«
Sie rümpfte die Nase. »Sie benutzt? Wozu kann man Chimären benutzen?«
»Für die Dominie Dirtch.«
»Was! Aber wie war es dann möglich, dass wir einer so genau festgelegten, vorgeschriebenen und klar umrissenen Vorgabe gefolgt sind und sie aus Versehen herbeigerufen haben? Genau das ist es doch, was Joseph Ander überwunden zu haben glaubte, wie du mir weismachen willst.«
Auf diesen Einwand hatte Richard nur gewartet. »Genau darin liegt die Ausgewogenheit. Begreifst du nicht? Magie muss ausgewogen sein. Um etwas Schöpferisches tun zu können, musste er es durch etwas NichtSchöpferisches ausgleichen, nämlich durch eine sehr strenge Formel. Dass diese in ihren Bedingungen für die Freisetzung der Chimären so streng ist, ist in sich der Beweis für das Schöpferische seines Tuns.«
Er kannte sie gut genug, um zu erkennen, dass sie weder damit einverstanden war noch in der Stimmung, zu widersprechen. Sie sagte schlicht: »Und wie vertreiben wir die Chimären nun?«
Richard schüttelte den Kopf. In diesem Punkt gab er sich geschlagen.
»Das weiß ich nicht. Ich fürchte, auf diese Frage gibt es keine Antwort. Die Zauberer zu Joseph Anders Zeit standen dem Mann genauso hilflos gegenüber. Am Ende galt dieser Ort bei ihnen schlicht als verloren. Allmählich glaube ich, Joseph Ander schuf eine unzerstörbare Magie im Zentrum eines Rätsels, das keine Lösung hat.«
Kahlan nahm ihm das Buch aus der Hand, klappte es zu und legte es zurück auf den kleinen Tisch.
»Richard, ich glaube, durch das Lesen dieses hochtrabenden Geschwafels eines Irren hast du inzwischen selbst ein wenig den Verstand verloren. So funktioniert Magie einfach nicht.«
Genau das hatten die Zauberer in der Burg gegenüber Ander auch behauptet – dass er ein entscheidendes Element, das von Natur aus unbeherrschbar ist, nicht beherrschen und umformen könne. Das verriet Richard Kahlan jedoch nicht. Sie war nicht darauf vorbereitet, Magie auf diese Weise zu betrachten.
Genauso wenig wie die anderen Zauberer.
Joseph Ander war alles andere als erfreut gewesen, dass man seine Ideen so rundweg ablehnte, daher auch sein endgültiger Abschied.
Kahlan schlang ihm die Arme um den Hals. »Tut mir Leid. Ich weiß, du hast dein Möglichstes getan. Nur werde ich langsam nervös. Das Ergebnis der Abstimmung müsste bald eintreffen.«
Richard legte ihr die Hände um die Taille. »Eines Tages, Kahlan, werden die Menschen die Wahrheit erkennen. Sie haben gar keine andere Wahl.«
Ihr Blick war leer. »Richard«, meinte sie leise, »liebst du mich, jetzt gleich?«
»Hier? Jetzt sofort?«
»Wir können den Zelteingang zubinden. Es kommt ohnehin niemand herein, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen.« Sie lächelte. »Ich verspreche dir, ganz leise zu sein und dich nicht in eine peinliche Situation zu bringen.« Sie hob sein Kinn mit einem Finger an. »Ich verspreche, nicht einmal deiner anderen Frau davon zu erzählen.«
Richard lächelte verhalten, dann entgegnete er: »Das können wir nicht tun, Kahlan.«
»Also, ich könnte schon. Und ich wette, ich könnte dich sogar so weit bringen, dass du es dir anders überlegst.«
Richard nahm den kleinen schwarzen Stein an ihrer Halskette in die Hand. »Die Magie ist versiegt, Kahlan. Das hier wird nicht wirken.«
»Ich weiß. Deswegen will ich es ja gerade.« Sie packte sein Hemd. »Es ist mir egal, Richard. Dann zeugen wir eben ein Kind. Was macht das schon?«
»Das weißt du ganz genau.«
»Wäre das wirklich so schlimm, Richard? Wirklich?« Ihre grünen Augen füllten sich mit Tränen. »Wäre es wirklich so schlimm, wenn wir beide ein Kind zeugten?«
»Nein, nein. Natürlich nicht, Kahlan. Das ist nicht der Grund. Du weißt, ich will es auch. Aber im Augenblick können wir es nicht. Wir können es uns nicht leisten, in jedem Schatten Shota lauern zu sehen, die nur darauf wartet, ihr Versprechen wahr zu machen. Wir dürfen uns nicht von unserer Pflicht ablenken lassen.«
»Von unserer Pflicht. Und was ist mit uns? Mit unseren Wünschen?«
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