Er stürzte und konnte eine Weile lang nicht wieder aufstehen. Alle Kraft hatte ihn verlassen. Er schaute auf seine Hände, sah das Blut, das an ihnen klebte. Ihr Blut.
Ihr Gesicht blitzte vor ihm aus dem grauen Dunst auf, leuchtend und sprühend, ihr Silberhaar zurückgeworfen, ihre schwarzen Augen …
Quickening! Es gelang ihm mit Mühe, wieder auf die Füße zu kommen, und dann rannte er weiter, rutschte und stolperte und kämpfte gegen die Visionen an, versuchte, seine Fassung zurückzugewinnen, seine Selbstkontrolle. Aber nichts wollte an seinen Platz rücken, alles torkelte kunterbunt durcheinander, und Wahnsinn raste in ihm wie ein freigelassener Wachhund. Er hatte sie getötet, ja. Aber sie hatte ihn dazu veranlaßt, es zu tun! Alle die Gefühle für sie waren von Anfang an falsch gewesen, nichts als ihr Werk, sie hatte ihn verdreht!
Vor ihm öffnete sich die Knochensenke, leer und steinig. Er wurde nicht langsamer. Er rannte weiter.
Irgend etwas geschah hinter ihm. Er konnte eine Veränderung der Erschütterungen wahrnehmen, ein Drehen des Windes. Er konnte fühlen, wie sich etwas Kaltes tief in seinem Inneren ausbreitete. Magie! Eine Stimme flüsterte bohrend, heimtückisch. Quickening kommt dich holen! Aber Quickening war doch tot! Er schrie laut auf, verfolgt von Dämonen, die alle ihr Gesicht trugen.
Er stolperte und fiel mitten in einen Haufen bleicher Knochen, raffte sich wieder auf die Knie und erkannte plötzlich, wo er sich befand.
Die Zeit blieb für Pe Ell stehen, und ein furchteinflößender Augenblick der Erkenntnis erblühte in ihm.
Der Koden! Und dann hatte er ihn. Seine zottigen Glieder umfingen ihn, sein Körper roch nach Alter und Verwesung. Er konnte das Pfeifen seines Atems an seinem Ohr hören, konnte die Hitze seines Gesichts spüren. Die Nähe des Monsters war erstickend. Er strampelte, um es zu sehen, und stellte fest, daß er unfähig dazu war. Es war da und gleichzeitig nicht da. War es irgendwie unsichtbar geworden? Er versuchte, den Griff des Stiehls zu fassen, aber seine Finger wollten nicht reagieren.
Wie war das möglich?
Plötzlich wußte er, daß es kein Entkommen mehr gab. Und er war nur gelinde überrascht festzustellen, daß es ihm ziemlich egal war.
Im nächsten Augenblick war er tot.
Weniger als eine Stunde später gelangten die letzten drei Überlebenden der Gruppe aus Rampling Steep zur Knochensenke und fanden Pe Ells Leiche. Er lag auf halbem Wege, ausgespreizt und ungeschützt auf der Erde, den leblosen Blick in den Himmel gerichtet. Eine Hand umklammerte den Lederbeutel mit den blauen Runen, der den schwarzen Elfenstein enthielt. Der Stiehl steckte noch in der Scheide.
Walker Boh schaute sich neugierig um. Quickenings Magie hatte sich über die Knochensenke hinaus ausgebreitet und so verwandelt, daß sie nicht mehr wiederzuerkennen war. Sägegras und Springkraut wucherte in Büscheln überall und polsterte die harte Oberfläche des Gesteins. Gelbe und purpurne Wildblumen neigten sich der Sonne entgegen, und die Knochen der Toten waren im Erdboden verschwunden. Alles, was übriggeblieben war, war Pe Ell.
»Nicht die geringste Wunde«, murmelte Horner Dees. Sein zerklüftetes Gesicht war noch runzliger, und seine Stimme war voller Staunen. Er trat näher, beugte sich hinunter, um genauer hinzuschauen, und richtete sich wieder auf. »Vielleicht der Hals gebrochen. Rippen eingedrückt. Irgend so was. Aber nichts, was ich so sehen könnte. Etwas Blut an seinen Händen, aber das stammt von dem Mädchen. Und schaut doch mal. Spuren vom Koden überall. Er muß ihn erwischt haben. Aber an seiner Leiche sind keine Zeichen. Wie gefällt euch das?«
Nirgendwo war ein Hinweis darauf, daß der Koden noch da war. Er war fort, verschwunden, als habe es ihn nie gegeben. Walker prüfte die Luft, testete die Stille, schloß die Augen, um zu prüfen, ob er den Koden in seinem Bewußtsein finden könnte. Nein. Quickenings Magie hatte ihn befreit. Sobald die Ketten, die ihn fesselten, zerbrochen waren, war er in seine eigene Welt zurückgekehrt, wieder er selbst, nichts als ein Bär. Und die Erinnerungen an das, was ihm angetan worden war, verblaßten schon. Walker fühlte, wie sich tiefe Befriedigung in ihm ausbreitete. Am Ende hatte er sein Versprechen halten können.
»Schaut euch doch mal seine Augen an«, sagte Horner Dees. »Seht mal, wieviel Angst darin steht. Er starb nicht als glücklicher Mann, was immer es war, das ihn getötet hat. Er starb voller Angst.«
»Es muß der Koden gewesen sein«, beharrte Morgan Leah. Er hielt sich von der Leiche fern, wollte sich ihr nicht nähern.
Dees musterte ihn kritisch: »Meinst du? Wie denn? Was hat er gemacht? Ihn zu Tode umarmt? Muß ziemlich schnell gegangen sein, wenn es das war. Sein komisches Messer steckt noch immer in der Scheide. Schau dir’s an, Hochländer. Was siehst du?«
Morgan kam widerwillig näher. »Nichts«, gab er zu.
»Wie ich gesagt habe«, schnaufte Dees. »Soll ich ihn umdrehen, damit du die andere Seite sehen kannst?«
Morgan schüttelte den Kopf. »Nein.« Er betrachtete Pe Ells Gesicht eine Weile, ohne etwas zu sagen. »Es spielt keine Rolle.« Dann schaute er auf und suchte Walkers Blick. »Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ist das nicht seltsam? Ich wünschte ihn tot, aber ich wollte derjenige sein, der ihn tötete. Ich weiß, es ist egal, wer ihn umgebracht hat oder wie es geschehen ist, aber irgendwie fühle ich mich betrogen. Als wäre mir die Chance gestohlen worden, die Dinge auszugleichen.«
»Ich glaube nicht, daß es so ist, Morgan«, erwiderte der Dunkle Onkel leise. »Ich glaube, diese Chance war dir nie zugedacht.«
Der Hochländer und der alte Fährtensucher schauten ihn überrascht an. »Was willst du damit sagen?« knurrte Dees.
Walker zuckte mit den Achseln. »Wäre ich der König vom Silberfluß und gezwungen, das Leben meines Kindes der Klinge eines Meuchelmörders zu opfern, dann würde ich dafür sorgen, daß der Mörder nicht mit heiler Haut davonkommt.« Er schaute von einem zum anderen. »Vielleicht sollte die Magie, die Quickening in ihrem Körper trug, mehr als nur einer Sache dienen. Vielleicht tat sie das.«
Es entstand ein langes Schweigen, während die drei diese Möglichkeit erwogen. »Das Blut an seinen Händen vielleicht?« sagte Horner Dees nach einiger Zeit. »Als wäre es Gift?« Er schüttelte den Kopf. »Erscheint ebenso wahrscheinlich wie irgendwas anderes.«
Walker Boh bückte sich und befreite den Beutel mit dem schwarzen Elfenstein vorsichtig aus Pe Ells starren Fingern. Er wischte ihn sauber, hielt ihn einen Moment auf der Handfläche und dachte bei sich, welche Ironie des Schicksals es war, daß der Elfenstein dem Mörder nichts genützt hatte. So viel Mühe, um in den Besitz seiner Magie zu gelangen, und alles umsonst. Quickening hatte es gewußt. Der König vom Silberfluß hatte es gewußt. Wenn Pe Ell es auch gewußt hätte, hätte er das Mädchen auf der Stelle getötet und damit der Sache ein für alle Male ein Ende gesetzt. Oder wäre er dennoch geblieben, so gefangen von ihr, daß er selbst dann nicht hätte entkommen können? Walker Boh war sich nicht sicher.
»Und was ist hiermit?« Horner Dees löste den Stiehl von Pe Ells Hüfte. »Was machen wir hiermit?«
»In den Ozean werfen«, gab Morgan sofort zurück. »Oder in das tiefste Loch, das du finden kannst.«
Walker kam es vor, als höre er jemand anderen sprechen, als ob die Worte ihm in unangenehmer Weise nicht unbekannt seien. Dann merkte er, daß er an sich selbst dachte und sich an das erinnerte, was er gesagt hatte, als Cogline ihm die Druidengeschichte aus Paranor gebracht hatte. Andere Zeiten, andere Magie, dachte er, aber die Gefahren blieben immer die gleichen.
»Morgan«, sagte er, und der junge Mann drehte sich zu ihm um. »Wenn wir es fortwerfen, riskieren wir, daß es wiedergefunden wird – vielleicht von jemandem, der so verderbt und übel ist wie Pe Ell. Vielleicht von jemandem, der noch schlimmer ist. Die Waffe muß irgendwo eingeschlossen werden, wo niemand sie mehr erreichen kann.« Er wandte sich an Horner Dees. »Wenn du sie mir überlassen willst, dann werde ich dafür sorgen, daß das geschieht.«
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