So war es denn auch mehr sein eigenes Bedürfnis, sich auf andere Gedanken zu bringen, als wirkliches Interesse, das ihn bewog, seine Zusage vom vergangenen Tag einzuhalten und Garth und Shyleen bei ihrem Ausflug in die Berge zu begleiten. Die Laa erhoben keine Einwände, als sie das Dorf verließen — immerhin war heute der Siegestag, so daß mit einem Angriff der Echsen nicht zu rechnen war, und auch die mörderische Natur des Tales konnte ihnen nichts anhaben, solange sie sich vom Fluß fernhielten und nicht etwa auf die Idee kamen, ihn überschreiten zu wollen.
Aber ihr Weg führte in die entgegengesetzte Richtung, und schon nach weniger als einer halben Stunde hatten sie alles vergessen, was jenseits der Trennlinie aus Wasser lag, die dieses Tal in eine bewohnbare und eine tödliche Hälfte teilte.
Es war wie ein Ausflug ins Paradies.
Der Weg war anstrengend, aber nicht zu schwer, und die Müdigkeit, die sich bald in ihren Gliedern breitmachte, war von sehr angenehmer, entspannender Art.
Stundenlang wanderten sie durch eine unberührte Gegend, die von einer wilden, bizarren Schönheit erfüllt war: gigantische Felslandschaften wechselten mit kleinen, von verträumten Hainen erfüllten Tälern ab, tosende Wasserfälle mit sprudelnden Bächen von kristallener Klarheit, sanft abfallende Hänge mit jähen Schluchten, in deren Tiefe sich ihr Blick verlor, ohne auf einen Grund zu treffen. Nichts von alledem war Torian fremd oder neu – er hatte all dies und tausend andere Wunder der Natur schon hundertfach gesehen, an hundert verschiedenen Orten auf der Welt, aber niemals in solcher überschwenglichen Fülle, und niemals in solcher Reinheit. Es war, als sähe er zum ersten Mal wirkliche Schönheit, es schien keine Zwischentöne zu geben: In die majestätische Größe dieser Berge mischte sich keine Gefahr, in den wild wuchernden Wuchs der Wälder kein Verfall, in das kristallklare Wasser der Bäche kein Sandkorn. Er kam sich vor, als wandere er durch ein Bild, das ein begnadeter Maler unmittelbar nach seinen Träumen gemalt und ein Magier zur Wirklichkeit erweckt hatte.
Sie strichen fast ziellos durch die Berge, bis die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte und weiterwanderte, dann rasteten sie eine Stunde, ehe sie sich auf den Rückweg machten. Obwohl keiner von ihnen besondere Acht auf die Strecke gegeben hatte, fanden sie den Weg zurück mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit. Müde und auf sehr angenehme Art erschöpft kehrten sie mit dem letzten Licht der untergehenden Sonne ins Dorf der Laa zurück.
Sie platzten mitten in die letzten Vorbereitungen der Krönungszeremonie hinein. Der Platz zwischen der Handvoll kleiner Hütten hatte sich verändert. In seiner Mitte brannte jetzt ein helloderndes Feuer, die Hütten selbst und auch der Weg zum See hinunter waren mit Blüten und kunstvoll geflochtenen Girlanden geschmückt, und von der anderen Seite des Ortes wehte ein Durcheinander scheinbar wahllos gespielter Musikinstrumente zu ihnen. Es dauerte einen Augenblick, bis Torian begriff, daß er vergeblich versuchen würde, eine Melodie zu identifizieren: Offensichtlich probten einige Laa einfach auf ihren Instrumenten, und in kindlicher Unbefangenheit war es ihnen ziemlich gleichgültig, daß drei Dutzend anderer in ihrer unmittelbaren Umgebung dasselbe taten.
Torian verabschiedete sich flüchtig von Shyleen und Garth und trat in seine Hütte, in der Ayla bereits auf ihn wartete. Sie saß mit dem Rücken zur Tür da und war damit beschäftigt, sich einen Blütenkranz ins Haar zu flechten. In der linken Hand hielt sie einen Spiegel, und für den Bruchteil eines Herzschlages fiel Torians Blick in diesen Spiegel.
Er erstarrte, als er das Gesicht darin sah.
Es war nicht Aylas Gesicht.
Im gleichen Moment, in dem er über Aylas Schulter hinweg in den Spiegel blickte, erinnerte er sich wieder an seinen Alptraum, und es war das Gesicht aus diesem Traum, eine zerfallene, graue Fratze, in die Krankheit und Not ihre Spuren gegraben hatten, und aus der blutunterlaufene trübe Augen voller Haß und gleichzeitigem Erschrecken seinem Blick begegneten.
Dann senkte Ayla den Spiegel und drehte sich gleichzeitig herum, und die Illusion zerplatzte; ihr Gesicht war wieder normal, das zarte, immer zu einem leisen Lächeln verzogene Antlitz des Mädchens, das ihm zum ersten Mal seit Jahren wieder das Wort Geborgenheit gelehrt hatte.
Aber Torian wäre nicht Torian gewesen, hätte er irgendwie anders reagiert, als er es tat: Ohne auf Aylas verwunderten Blick zu achten, trat er an ihr vorbei, nahm ihr den Spiegel aus der Hand und schaute hinein.
Er sah sein eigenes Gesicht. Und es war ganz genau so, wie er es in Erinnerung hatte. Keine Alptraumvisage.
»Was hast du?« fragte Ayla. Ihre Stimme klang gleichzeitig verwirrt wie alarmiert.
Torian ließ den Spiegel wieder sinken, lächelte verlegen und schüttelte hastig den Kopf. »Nichts«, antwortete er. »Entschuldige. Ich ... hatte heute nacht einen üblen Traum, das ist alles.«
»Und mein Spiegel spielte darin eine Rolle?« fragte Ayla spöttisch.
Torians Lächeln wurde noch ein wenig verlegener. »Natürlich nicht«, log er. »Vergiß es. Ich bin nervös, das ist alles.«
»Sicher«, pflichtete Ayla verständnisvoll bei. »Du hast viel durchgemacht, auf dem Weg hierher. Aber das wird sich geben.« Sie stand auf, schob mit der linken Hand die Blüten in ihrem Haar zurecht und küßte ihn flüchtig. Aber als er nach ihr greifen und sie fester an sich ziehen wollte, entschlüpfte sie ihm mit einer fließenden Bewegung und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Dazu ist jetzt keine Zeit«, erklärte sie, während sie ihm spielerisch mit dem Zeigefinger drohte. »Die Zeremonie beginnt, sobald die Sonne vollends untergegangen ist. Du willst doch nicht den glücklichsten Moment im Leben deiner Freunde verpassen, oder?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Torian hastig. Er trat einen Schritt zurück, bückte sich, um den Spiegel wieder zu Boden zu legen – und ertappte sich dabei, ihn für einen winzigen Moment so zu halten, daß sich Aylas Gestalt in dem polierten Silber brach.
Aber nichts daran hatte sich verändert. Sie war jung und schön und unschuldig wie immer.
Torian legte den Spiegel hastig endgültig aus der Hand und schalt sich in Gedanken einen mißtrauischen Narren. Wenn er nicht acht gab, würde er alles zerstören. Diese Menschen hier –und allen voran Ayla – hatten nichts anderes im Sinn, als Shyleen, Garth und ihn glücklich zu machen, und er suchte fast krampfhaft nach...
Ja – wonach eigentlich?
Verwirrt richtete er sich auf, blickte auf den zierlichen Silberspiegel zu seinen Füßen hinab und zerbrach sich vergebens den Kopf darüber, was daran sein Mißtrauen erweckt haben mochte. Irgend etwas war nicht in Ordnung gewesen, als er hier hereingekommen war – aber was? Etwas hatte sein Mißtrauen geweckt, etwas, das mit diesem Spiegel zusammenhing, oder dem, was er darin gesehen hatte, aber er konnte sich einfach nicht mehr daran erinnern, was es gewesen war...
Torian fühlte sich wie betrunken. In seinem Kopf drehte sich alles. Er machte einen Schritt auf Ayla zu, blieb wieder stehen und streckte die Hände nach ihr aus. Er wankte. Ayla machte keine Anstalten, um ihn zu stützen, sondern sah ihn nur an, auf eine sehr sonderbare, fragende Art, in der nichts Feindseliges, aber auch ganz und gar nichts Warmes mehr war.
»Was ist mit dir?« fragte sie. »Fühlst du dich nicht wohl?«
»Doch«, log Torian. »Es ist... nichts. Ich bin ... ein wenig müde – glaube ich. Der Tag war anstrengend.«
»Warum ruhst du dich nicht aus?« fragte Ayla. »Schlaf. Ich wecke dich, wenn das Fest beginnt.« Sie lächelte, ihre Stimme war warm und sanft wie immer, aber etwas war ... falsch daran. Auf entsetzliche Weise falsch. Er schaute sie an, und für den Bruchteil einer Sekunde war ihr Gesicht wieder das Gesicht einer alten Frau, dann zerplatzte die Illusion abermals. Torian stöhnte.
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