»Du hättest sie begleiten sollen, du Narr!« sagte Eliseth. »Woher soll ich jetzt wissen, in welche Richtung sie gehen?«
Dennoch drehte sie sich zu dem Baum um und hob mit einer drohenden Geste die Hand. »Laß ihn runter«, fauchte sie, »sonst …«
Mit einem vernehmlichen Aufprall fiel Bern, der vor Erleichterung den Tränen nahe war, zu Boden. »Oh, ich danke dir, Herrin!« Er stand mit einiger Mühe wieder auf und schien plötzlich nicht mehr weiterzuwissen. »Was machen wir jetzt?«
»Nun, ich gehe zum See, du elender Sterblicher«, herrschte Eliseth ihn an. »Wenn du mit mir kommen willst, mußt du sehen, daß du mit mir Schritt hältst – ich werde nicht auf dich warten. Ich habe langsam genug davon, durch diesen verfluchten Wald zu irren.« Sie runzelte die Stirn. »Wenn die Bäume mich nicht endlich durchlassen, werde ich sie verbrennen, wie ich es mit den anderen auch getan habe.«
»Aber das ist doch gar nicht nötig, Herrin«, wandte Bern ein. »Sieh nur – der Weg ist direkt da drüben.«
Die Wettermagusch drehte sich um, schaute in die Richtung, in die er zeigte, und fluchte heftig. »Der Weg war vorher nicht da. Bist du sicher, daß er der richtige ist?«
»Er führt in die richtige Richtung, Herrin. Wenn du mir folgst, führe ich dich hin.«
Eliseth zuckte mit den Achseln. Nun, das war immer noch besser, als pausenlos durch den Wald zu irren, wie sie es bisher getan hatte.
»Dann geh schon«, sagte sie zu Bern. »Und beeil dich! Außerdem solltest du eines nicht vergessen – wenn du mich in die Irre führst, werde ich dafür sorgen, daß es dir leid tut.«
»Keine Sorge, Herrin – ich kenne den Weg.« Mit diesen Worten ging er los und stolperte mühsam vor ihr her über den Waldweg. Eliseth zuckte noch einmal mit den Achseln und folgte ihm.
Aurian ging langsam über die Brücke, und ihre Schritte hallten hohl auf den Holzplanken wider. D’arvan sah sie vom Seeufer aus, wo er das kleine Wolfsjunge einen Augenblick zuvor sicher abgesetzt hatte. Sein Herz machte vor Erleichterung einen Sprung, als er am Ufer in einer Traube von Leuten seine Maya entdeckte, gesund und munter – und wieder in menschlicher Gestalt. Bisher also hatte Aurian Erfolg gehabt. Das hätte er sich eigentlich denken können. Aber der nächste Teil – das Erringen des Schwertes – würde sich als schwieriger erweisen. Ängstlich eilte er zu ihnen und erinnerte sich plötzlich daran, daß sie ihn nicht sehen konnten. Bei den Göttern, es war so lange her … Also unterdrückte er einen Freudenschrei und begann zu laufen; das Wolfsjunge, das auf sich allein gestellt ins Gebüsch gewandert war, hatte er ganz vergessen.
Cygnus kreiste über dem See und erblickte die kleine Gruppe von Zuschauern an der Brücke. Dort war Aurian, die ganz allein auf die Insel zuging – und dort Anvar, der ein kleines Stück von den anderen entfernt am Rand des hölzernen Brückenbogens stand und seinen Blick fest auf die immer kleiner werdende Gestalt der Magusch geheftet hatte. Er war jetzt allein und obendrein abgelenkt… Cygnus lächelte. Endlich war seine Chance gekommen, die Harfe der Winde an sich zu bringen! Also schoß der geflügelte Mann in einer steilen Kurve auf sein ahnungsloses Opfer zu.
Vannor führte seine Rebellen aus dem Wald heraus und sah die Szene, die sich an der Brücke abspielte. Was, um alles in der Welt, taten die Magusch da? War das Schwert irgendwo auf der Insel versteckt? Dann versetzte Parric ihm einen Stoß in die Rippen. »Vannor – da drüben!«
Der Kaufmann schaute über den See und sah, daß Eliseth am anderen Ufer zwischen den Bäumen hervortrat. Sie schien ungefähr genausoweit von der Brücke entfernt zu sein wie er. Vannor fluchte. Es hatte keinen Sinn, seinen Freunden eine Warnung zuzurufen. Sie würden ihn aus dieser Entfernung wahrscheinlich nicht hören, und außerdem konnte es möglicherweise verheerende Auswirkungen haben, wenn er Aurians Konzentration in diesem Augenblick störte.
»Komm – wir müssen Anvar warnen«, sagte er zu dem Xandim, den er ritt, und das Pferd galoppierte los, gefolgt von den übrigen Rebellen. Eliseth auf der anderen Seite des Sees hatte sie jetzt ebenfalls erblickt und ihrem Pferd die Sporen gegeben. Aber wer von ihnen würde sein Ziel als erster erreichen?
Als Aurian die Brücke überquerte, nahm sie nichts von den Dramen war, die sich um sie herum abspielten. Das Schwert der Flammen rief jetzt nach ihr; es beanspruchte ihre ganze Aufmerksamkeit. Aber sie wußte, daß es nicht leicht sein würde, es zu erringen. Es mußte auf jeden Fall eine Art Probe oder eine Herausforderung geben – so war es bei den anderen Artefakten auch gewesen. Plötzlich war sie froh, daß sie Anvar trotz seines Protests dazu bewogen hatte, zurückzubleiben. Diese Sache konnte gefährlich werden, und sie würde für die vor ihr liegende Aufgabe ihre ganze Konzentration brauchen.
Als sie die Brücke hinter sich hatte, erblickte Aurian einen großen, grauen Felsbrocken, der an der Stelle lag, an der einst der Turm gestanden hatte. Sie runzelte die Stirn. Woher war dieses Ding gekommen? Vorher war es jedenfalls nicht dort gewesen. Es war aus Granit, einem Stein, der sich sehr von dem schwarzen Basalt des Tals unterschied, auf dem das Fundament von Eilins Turm erbaut worden war. Die Magusch näherte sich ihm vorsichtig, während der Kriegsgesang des Schwertes immer lauter in ihren Gedanken widerhallte. Dann streckte sie ganz langsam eine Hand aus, um den massiven Fels zu berühren – und er verwandelte sich unter ihren Fingern in einen riesigen Kristall, in dem ein Licht pulsierte, das von frischem Blut dunkelrot gefärbt war. In den dumpf leuchtenden Facetten des Juwels konnte sie die funkelnden Umrisse eines Schwertes erkennen, jenes Schwertes, das einzig und allein für ihre Hand geschaffen war und das ihr mit seiner harten, metallischen Stimme die Bitte zurief, es aus seinem Gefängnis zu befreien.
Aurian lächelte, aber eine warnende Stimme hielt sie zurück. So einfach konnte das doch unmöglich sein? Das Erringen des Stabes war außerordentlich schwierig gewesen …
Dennoch streckte die Magusch die Hände aus und legte sie auf den Kristall. Mit ihren Heilerinnensinnen suchte sie nach Schwächen innerhalb der Gitterstruktur des Steines, wie sie es vor langer, langer Zeit in den Tunneln unter Dhiammara getan hatte. Mühelos fand sie die Stelle und stieß mit all ihren Kräften zu, um die Kristallstruktur zu zerschmettern. Mit einem seufzenden Wispern zerfiel das Juwel zu funkelndem Staub, und das Flammenschwert sprang in Aurians Hand.
Von einer Woge feuriger Macht erfüllt, die sie mit qualvoller Ekstase zu verzehren schien, ließ sich Aurian auf die Knie fallen. Die Welt um sie herum verblaßte, und es gab nur noch den pulsierenden, blutroten Nebel, während das Lied des Schwertes laut durch ihre Gedanken hallte.
»Du bist der Eine, wie es prophezeit ist, und du hast mich gefunden. Aber bevor du über meine Macht verfügen darfst, mußt du mich zuerst erringen, wie du den Stab der Erde errungen hast. Es muß ein Blutband zwischen uns geben, Kriegerin – ein Opfer. Das erste Blut, das ich trinke, muß das Lebensblut eines Menschen sein, den du liebst. Dann – und nur dann – werde ich mich dir unterwerfen.«
Aurian schrak entsetzt zurück und nahm plötzlich wieder die Welt um sich herum wahr. »Was?« brauste sie auf. »Ich werde nichts Derartiges tun!« Die Warnung des Leviathan kam ihr wieder in den Sinn. »Wie soll ich dich im Namen des Guten benutzen«, fragte sie, »wenn ich dich durch einen so unaussprechlichen Akt in meinen Besitz bringen muß?«
»Dann bin ich verwirkt, und du hast versagt.«
Und plötzlich wandelte sich alles gleichzeitig zum Schlechten.
Wie ein Donnerschlag hallte es über den See, als die Phaerie, angeführt von der hünenhaften Gestalt Hellorins, am Ufer auftauchten.
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