»Falls sie es erringen kann, meinst du«, murmelte Eilin mit einer Stimme, die zu leise war, als daß er sie hätte hören können. Sie wandte sich von Hellorin ab, damit er ihr Stirnrunzeln nicht sah. Sie dachte nicht an die Phaerie, sondern an die armen Pferdeleute da draußen, die sich plötzlich wieder in einfache Tiere verwandeln würden, falls Aurian das Schwert errang. Und mehr als das, sie machte sich Sorgen um D’arvan, der dem Angriff auf den belagerten Wald standhalten mußte. Hatte Hellorin vergessen, daß sein einziger Sohn da draußen war und um sein Leben kämpfte? Und was war mit Maya, die gegen ihre Tochter kämpfen mußte, obwohl die beiden Frauen enge Freundinnen waren? Aber vor allem anderen war ihr Herz erfüllt vor Angst um Aurian, der die gefährliche Aufgabe bevorstand, das Flammenschwert zu erringen. Eilin, die ihre Ohren vor den Freudenschreien der Phaerie verschloß, wandte sich wieder zu dem Fenster und begann zu beten.
D’arvan hetzte durch den sturmdunklen Wald auf die Rauchsäulen zu, die sich am östlichen Rand des Tales erhoben, und in seinen Ohren hallten die Todesschreie der Bäume wider. Noch während er seinem Ziel entgegenlief, wußte er, daß er zu spät kommen würde. Die Gedanken des Magusch waren voller Bitterkeit. Sein Vater und die Lady Eilin hatten ihm vertraut, aber er, D’arvan, hatte als Wächter versagt. Um solche Zerstörung anzurichten, mußte Eliseth über Kräfte gebieten, die die seinen bei weitem überstiegen. Es schien, als hätte Aurian recht gehabt – die Wettermagusch mußte es irgendwie geschafft haben, Miathan den Kessel der Wiedergeburt zu stehlen. Und was kann ich tun, dachte er verzweifelt, um es mit diesem alten Artefakt der Hohen Magie aufzunehmen?
Er wußte, daß er gar nichts tun konnte. Seine einzige Hoffnung mußte darin bestehen, daß es Aurian gelang, das Flammenschwert zu erringen. Er mußte sofort zur Insel zurückkehren, wohin er von Anfang an hätte gehen sollen. Es schien, daß er heute unter einem bösen Stern stand, denn wie auch immer er sich entschied, seine Entscheidung war falsch: Fluchend warf er einen letzten, verzweifelten Blick auf den brennenden Saum des Tales, bevor er sich wieder dem See zuwandte – und mit einem Entsetzensschrei auf den Lippen erstarrte. Der Brand hatte den oberen Rand der Felsen erreicht, obwohl er sich fest darauf verlassen hatte, daß die steilen Steinwände das Feuer aufhalten würden. Aber schon begannen die brennenden Bäume in sich zusammenzustürzen und krachten wie mit Flammenschwänzen versehene Kometen in den Abgrund. Grauer Qualm stieg auf und verdüsterte den Himmel, als die Bäume unten ebenfalls Feuer fingen und ein weiterer entsetzlicher Gedanke D’arvans benommenes Bewußtsein durchdrang – denn das Tal war Heim und Zuflucht für so viele, wilde Geschöpfe.
Selbst die Luft stöhnte unter der Last ungezählter Vögel, die sich jäh zum Himmel aufgeschwungen hatten und mit mitleiderregendem Piepen ihre Kreise zogen, wobei sie in der allgemeinen Verwirrung immer wieder miteinander zusammenstießen. Das Unterholz begann sich zu regen und zu rascheln, während Mäuse und anderes Getier um ihr Leben liefen, und Schlangen hinaus ins Freie schossen, deren gegabelte Zungen hin und her flackerten, um den Qualm zu kosten. Eichhörnchen sprangen kreischend durch die Zweige hoch über dem Boden. Die ersten erschrockenen Tiere jagten an dem Magusch vorbei und flüchteten vor dem sich ausbreitenden Feuer. Hirsche sprangen die Waldwege hinunter, und ihre weißen Schwänze zuckten vor Angst. Wölfe jagten wie ein grauer Nebel, der sich um die Bäume schlängelte, hinter ihnen her. Verschlafene Dachse, verwirrt von dieser seltsamen Nacht, stolperten durch das Gebüsch. Hasen und Kaninchen hoppelten – ausnahmsweise ohne um ihr Leben fürchten zu müssen – hin und her, denn ihre Feinde, die flinken Wiesel und Hermeline und die eleganten, kühnen Füchse waren ganz damit beschäftigt, sich vor den Flammen in Sicherheit zu bringen. D’arvan fand schließlich seine Geistesgegenwart wieder und rief den erschrockenen Kreaturen zu: »Lauft zu den Seen, o Waldbewohner! Sucht das Wasser – dort ist Sicherheit für euch alle!«
Dann machte er hastig kehrt, um seinen eigenen Rat zu befolgen, als er plötzlich ein mitleiderregendes Wimmern aus dem nahen Gebüsch hörte. D’arvan rannte durch den immer dichter werdenden Qualm auf die dünne Stimme zu. Dann steckte er, ohne einen Gedanken an seine eigene Haut zu verschwenden, eine Hand durch das Gewirr des Dornengestrüpps, tastete über den Boden, berührte etwas Pelziges – und förderte ein kleines Wolfsjunges zutage, das kaum älter als zwei Monde sein konnte. Es schien dem Feuer schon bedrohlich nah geraten zu sein, da einige Flecken seines dunkelgrauen Pelzes von den durch die Luft fliegenden Funken bereits versengt waren. »Wie bist du denn hierhergekommen?« murmelte D’arvan überrascht. »Hat das Feuer deine Eltern erschreckt, und haben sie dich vergessen?« Aber ihm blieb keine Zeit mehr, sich zu wundern. Also schob er das sich windende Wolfskind in die Tasche seines Gewandes und floh in Richtung See.
Als sich Aurian und ihre Gefährten vorsichtig ihren Weg hinunter in den Krater bahnten, schien sich der Kreis der Ereignisse im Leben der Magusch zu schließen, und sie fühlte sich in die Zeit zurückversetzt, als sie, ein kleines Mädchen mit zerzausten Haaren und schmutzigen Knien, Forral zum ersten Mal hinunter ins Tal geführt hatte. Heute, an diesem dunklen Tag, schien er ihr besonders nah zu sein.
Ungeduldig schüttelte Aurian den Kopf. Und selbst wenn er hier wäre, dachte sie, würde er dir als allererstes sagen, daß du mit diesen Tagträumereien aufhören mußt! Dafür stand im Augenblick zuviel auf dem Spiel. Aurian warf einen sorgenvollen Blick über die Schulter zu der östlichen Grenze des Tales hin, über der dunkler Rauch hing. »Beeilt euch!« drängte sie die anderen mit leiser Stimme weiter. »Es sieht so aus, als rücke Eliseth langsam näher.«
Nur allzu bereitwillig beschleunigte Schiannath seinen Schritt, aber es gab keinen richtigen Weg durch das Wirrwarr des Waldes, und das Unterholz war so dicht und das Wurzelwerk so gefährlich, daß die Pferde nicht galoppieren konnten. Aurian fluchte. Es schien, als hätten die Bäume im Augenblick zuviel mit sich selbst zu tun, um ihnen einen vernünftigen Weg zu öffnen. Also dachte sie hastig nach, legte dann eine Hand auf den Stab der Erde und griff mit ihrem Willen nach dem Wald.
Kaum hatte sie den Stab berührt, da hätte es die Magusch beinahe von Schiannaths Rücken hinuntergerissen, als der volle Zorn und der Schmerz der Bäume in ihre Gedanken schoß. Das ganze Tal stand in Flammen! Verzweifelt streckte sie dem Wald ihre Kräfte entgegen, um ihn zu beruhigen, und bat die Bäume, ihr einen Weg freizugeben und sie hindurchzulassen. »Kämpft nicht gegen das Böse!« sagte sie zu ihnen. »Beschützt euch! Wenn ihr vor euren brennenden Brüdern flieht und sie mit einem kahlen, offenen Ring umgebt, wird das Feuer keine weiteren Opfer mehr unter euch finden. Laßt Eliseth zum See durch, wenn sie es denn will. Öffnet ihr unbedingt einen Weg, aber seht zu, daß es ein langer ist.«
Plötzlich grinste Aurian. »Sie kennt das Tal nicht. Führt sie auf Umwegen in die Irre und haltet sie so lange wie nur möglich auf – aber sobald sie ungeduldig wird, laßt sie zum See durch, und ich werde mich um sie kümmern. Viele von euch waren mir in meiner Kindheit gute Kameraden. Ich habe unter euch gespielt, und ihr habt mich mit euren Zweigen beschützt. Ich möchte heute nicht noch mehr von euch verlieren.«
Von den Bäumen erklang ein leises Rascheln der Zustimmung wie eine sanfte Brise in den Zweigen. Die Magusch hörte, wie ihre Gefährten aufkeuchten, als plötzlich ein breiter Weg vor ihnen lag. Als Aurian an der Spitze ihrer kleinen Truppe auf den Weg ritt, senkten die Bäume des Tals ihr zu Ehren kurz die Zweige.
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