»Ja, Tolpan«, antwortete Caramon leise. Sie waren in ein schattiges Wäldchen getreten. Tanis wartete dort auf sie. Er stand unter einer hohen anmutigen Espe, deren neue Frühlingsblätter golden in der Morgensonne glänzten. »Es tut sehr oft weh. Aber der Schmerz ist besser, als wenn man im Innern leer ist.«
Tanis ging zu ihnen hinüber. Einen Arm legte er um Caramons breite Schulter, den anderen um Tolpan. »Bereit?« fragte er.
»Bereit«, erwiderte Caramon.
»Gut. Die Pferde stehen dort drüben. Ich dachte, wir reiten. Wir könnten eine Kutsche nehmen, aber – um ganz ehrlich zu sein – ich hasse es, in diesem verdammten Ding eingepfercht zu sein. Laurana auch, obwohl sie das niemals zugeben würde. Die Landschaft ist wunderschön in dieser Jahreszeit. Wir nehmen uns Zeit und genießen sie.«
»Du lebst in Solanthas, nicht wahr, Tanis?« fragte Tolpan, als sie ihre Pferde bestiegen hatten und die geschwärzte, zerstörte Straße hinabritten. Die Leute, die nach der Beerdigung zurückgekehrt waren, um die Scherben ihres Lebens in die Hand zu nehmen, hörten die fröhliche Stimme des Kenders noch lange durch die Straßen hallen, nachdem er verschwunden war.
»Ich war einmal in Solanthas. Sie haben ein schrecklich feines Gefängnis dort. Eines der nettesten, in denen ich jemals war. Ich war dort natürlich aufgrund eines Mißverständnisses. Wegen so einer silbernen Teekanne, die ganz zufällig in einen meiner Beutel gepurzelt war...«
Dalamar stieg die steile Wendeltreppe hoch, die zum Laboratorium oben im Turm der Erzmagier führte. Er stieg die Stufen hoch, anstatt sich durch seine Magie dorthin versetzen zu lassen, weil er noch in dieser Nacht eine lange Reise vor sich hatte. Zwar hatten Elistans Kleriker seine Wunden geheilt, aber er war immer noch geschwächt und wollte seine Kräfte nicht zu sehr strapazieren.
Später, wenn der schwarze Mond im Himmel stand, würde er durch die Zeit zum Turm der Erzmagier in Wayreth reisen, um einer Versammlung der Zauberer beizuwohnen – einer der wichtigsten, die in dieser Epoche abgehalten wurde. Par-Salian trat als Oberhaupt der Versammlung zurück. Sein Nachfolger würde bestimmt werden. Es würde wahrscheinlich Justarius sein, ein Magier der Roten Roben. Dalamar störte das nicht. Er wußte, daß er für den Posten des Erzmagiers noch nicht mächtig genug war. Auf jeden Fall jetzt noch nicht. Aber es gab gewisse Anzeichen, daß auch ein neues Oberhaupt des Ordens der Schwarzen Roben gewählt werden sollte. Dalamar lächelte. Er hatte keine Zweifel, wer das sein würde.
Er hatte all seine Vorkehrungen für den Aufbruch getroffen. Die Wächter hatten ihre Anweisungen: Niemandem – lebend oder tot – war der Einlaß in den Turm während seiner Abwesenheit gestattet. Es war unwahrscheinlich, daß jemand ihn begehren würde. Der Eichenwald von Shoikan war von den Flammen verschont geblieben, die durch das restliche Palanthas gefegt waren, und hielt seine eigene grimmige Wache aufrecht. Aber die finstere Einsamkeit, für die der Turm so lange bekannt gewesen war, würde bald zu Ende sein.
Auf Dalamars Befehl waren einige Zimmer im Turm gesäubert und eingerichtet worden. Er plante, mehrere Lehrlinge mitzubringen – Schwarze Roben auf jeden Fall, aber vielleicht eine Rote Robe oder zwei, wenn er geeignete fand. Er freute sich darauf, die Kenntnisse weiterzureichen, die er erworben hatte, sein Wissen und seine Fähigkeiten anderen zur Verfügung zu stellen. Und – er mußte es sich selbst eingestehen – er freute sich auf Kameradschaft und Geselligkeit.
Aber zuerst mußte er noch etwas erledigen.
Als er das Laboratorium betrat, hielt er an der Schwelle inne. Er war nicht mehr hier gewesen, seitdem Caramon ihn an jenem letzten, schicksalserfüllten Tag hinausgetragen hatte. Jetzt war es Nacht. Der Raum war dunkel. Auf ein Wort hin entzündeten sich Kerzen und wärmten den Raum mit einem sanften Licht. Aber die Schatten blieben und schwebten in den Ecken wie lebende Dinge.
Dalamar hob den Kerzenhalter in seiner Hand hoch und machte einen langsamen Rundgang durch das Zimmer. Dabei wählte er zahlreiche Gegenstände aus – Schriftrollen, einen Zauberstab, mehrere Ringe – und schickte sie mit einem Befehl nach unten in sein eigenes Arbeitszimmer.
Er ging auch an der dunklen Ecke vorbei, wo Kitiara gestorben war. Ihr Blut befleckte noch immer den Boden. Dieser Teil des Raumes war eisigkalt, und Dalamar hielt sich dort nicht lange auf. Er ging an dem Steintisch mit seinen Bechern und Flasehen vorbei. Die Augen in ihnen starrten ihn immer noch flehend an. Mit einem Wort erlaubte er ihnen, sich zu schließen – für immer.
Schließlich kam er zum Portal. Die fünf Drachenköpfe, die ewig in die Leere starrten, schrien noch immer ihren stummen, eingefrorenen Lobgesang zur Dunklen Königin. Das einzige Licht, das auf ihren dunklen, leblosen Metallköpfen glänzte, war ein Widerschein von Dalamars Kerzen. Er sah in das Portal. Da war nichts. Lange Zeit starrte Dalamar hinein. Dann streckte er seine Hand aus und zog an einer goldsilbernen Kordel, die von der Decke hing. Ein dicker Vorhang fiel herab und verhüllte das Portal mit schwerem purpurroten Samt.
Dalamar wandte sich ab. Sein Blick war auf die Bücherregale gerichtet, die ganz hinten im Laboratorium standen. Das Kerzenlicht fiel auf Reihen nachtblau eingebundener Bücher, die mit silbernen Runen verziert waren. Aus ihnen strömte eine Eiseskälte.
Die Zauberbücher von Fistandantilus – nun seine.
Und wo diese Bücherreihe endete, begann eine neue Reihe von Büchern – schwarz eingebundene Bücher mit silbernen Runen. Als Dalamar mit seiner Hand über sie fuhr, bemerkte er, daß jeder einzelne Band mit einer inneren Hitze brannte, die bei der Berührung die Bücher seltsam lebendig zu machen schien.
Die Zauberbücher von Raistlin – jetzt seine.
Dalamar sah jedes Buch aufmerksam an. Jedes enthielt seine eigenen Wunder, seine eigenen Geheimnisse, und jedes enthielt Macht. Der Dunkelelf ging die Regale entlang. Als er das Ende erreicht hatte, schickte er den Kerzenständer zurück zum großen Steintisch. Seine Hand lag auf dem Türgriff, und sein Blick glitt zu einem letzten Gegenstand.
In einer dunklen Ecke lehnte der Stab des Magus an der Wand. Einen Augenblick hielt Dalamar den Atem an. Er glaubte, den Kristall oben am Stab erstrahlen zu sehen – jenen Kristall, der seit jenem Tag kalt und dunkel geblieben war. Aber dann erkannte er mit Erleichterung, daß es nur Spiegelungen des Kerzenlichts waren. Mit einem Wort löschte er die Flamme und ließ das Zimmer in Dunkelheit tauchen.
Er schaute noch einmal aufmerksam in die Ecke zum Stab hinüber. Er war in der Nacht verloren, und kein Licht glimmte.
Dalamar holte tief Atem, den er seufzend wieder ausstieß, und verließ dann das Laboratorium. Ruhig schloß er die Tür hinter sich. Er griff in eine Holzschachtel, die mit mächtigen Runen belegt war, zog einen silbernen Schlüssel hervor und steckte ihn in ein reichverziertes silbernes Türschloß – ein Türschloß, das neu war, ein Türschloß, das von keinem Schmied auf Krynn hergestellt worden war. Dalamar flüsterte Worte der Magie und drehte den Schlüssel im Schloß. Es klickte. Ein anderes Klicken hallte als Antwort wider. Die tödliche Falle war gelegt.
Dalamar wandte sich um und rief einen der Wächter zu sich. Die körperlosen Augen schwebten auf seinen Befehl herbei.
»Nimm diesen Schlüssel«, sagte Dalamar, »und bewahre ihn für alle Ewigkeiten auf. Gib ihn niemandem – nicht einmal mir. Und von diesem Moment an ist dein Platz hier. Du wirst diese Tür bewachen. Niemand darf sie betreten. Für jeden, der es versucht, laß schnell den Tod erfolgen.«
Die Augen des Wächters schlossen sich zustimmend. Als Dalamar zu den Stufen zurückging, sah er die Augen. Sie schwebten im Türrahmen, und ihr kaltes Glühen starrte in die Nacht.
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