Es waren erst zwei Tage seit dem Ende dessen vergangen, was Astinus in den »Chroniken« als die »Prüfung der Zwillinge« bezeichnet hatte (was alle anderen jedoch die »Schlacht von Palanthas« nannten). Die Stadt lag in Trümmern. Die zwei einzigen intakten Gebäude waren der Turm der Erzmagier und die Große Bibliothek. Doch auch diese war nicht unbeschadet davongekommen.
Daß sie überhaupt noch stand, war zum großen Teil auf die Heldentaten der Ästheten zurückzuführen. Angeführt von dem dicklichen Bertram, dessen Mut beim Anblick eines Drakoniers entfacht wurde, der es wagte, eine Klauenhand auf eines der heiligen Bücher zu legen, griffen die Ästheten den Feind mit solch einer Inbrunst und solch einer wilden verwegenen Gleichgültigkeit gegenüber ihrem eigenen Leben an, daß nur wenige der Reptilkreaturen entkamen.
Aber wie auch das restliche Palanthas zahlten die Ästheten einen schmerzhaften Preis für den Sieg. Viele ihres Ordens kamen in der Schlacht um. Sie wurden von ihren Ordensbrüdern betrauert, und ihre Asche wurde zur letzten ehrenhaften Ruhe zwischen die Bücher gelegt, für deren Verteidigung sie ihr Leben geopfert hatten. Der tapfere Bertram starb nicht. Nur leicht verwundet, sah er seinen Namen neben den Namen anderer Helden von Palanthas in einem der großen Bücher in die Geschichte eingehen. Das Leben hätte Bertram keine größere Belohnung anbieten können. Immer wenn er an diesem bestimmten Buch im Regal vorbeikam, zog er es hervor – aber nicht heimlich und verstohlen —, schlug es auf und sonnte sich im Glanz seines Ruhms.
Die wunderschöne Stadt Palanthas existierte nur noch in der Erinnerung und in einigen Beschreibungen in Astinus’ Büchern. Haufen verkohlter und geschwärzter Steine markierten die Gräber auf dem Anwesen des Palastes. Die reichen Lagerhäuser mit ihren Bier- und Weinfässern, mit ihren Vorräten an Baumwolle und Weizen, mit ihren Kisten, gefüllt mit wunderbaren Dingen aus allen Teilen Krynns, waren zu einem Aschenhaufen niedergebrannt. Ausgebrannte Schiffe trieben in den von Schutt verstopften Häfen. Händler stocherten in den Trümmern ihrer Geschäfte herum und bargen, was noch zu bergen war. Familien starrten auf ihre zerstörten Häuser und hielten einander umschlungen und dankten den Göttern, daß sie überlebt hatten.
Denn es waren viele, die nicht überlebt hatten. Von den Rittern von Solamnia waren fast alle in der Stadt im hoffnungslosen Kampf gegen Lord Soth und seine tödliche Legion umgekommen. Zu den ersten, die fielen, gehörte der schneidige Sir Markham. Seinem Schwur gegenüber Tanis war er treu geblieben. Er hatte nicht gegen Lord Soth gekämpft, sondern die Ritter geordnet und sie in einen Angriff gegen Soths Skelettkrieger geführt. Obwohl er dabei mit unzähligen Wunden übersät worden war, kämpfte er mutig weiter und führte seine blutüberströmten, erschöpften Männer immer wieder gegen den Feind, bis er schließlich tot von seinem Pferd fiel.
Durch diesen mutigen Einsatz der Ritter waren viele in Palanthas noch am Leben, die sonst durch die eiskalten Klingen der Untoten umgekommen wären, die auf geheimnisvolle Weise verschwunden waren. Es wurde erzählt, daß kurz zuvor ihr Anführer bei ihnen erschienen sei und einen eingehüllten Leichnam in seinen Armen getragen habe.
Als Helden beklagt, wurden die Leichen der Ritter von Solamnia zu ihren Kameraden in den Turm des Oberklerikers gebracht. Hier wurden sie in einer Grabstätte beerdigt, wo auch der Leichnam von Sturm Feuerklinge, dem Helden der Lanze, ruhte.
Beim Öffnen der Grabstätte, die seit der Schlacht um den Turm des Oberklerikers nicht gestört worden war, wurden die Ritter von Ehrfurcht erfüllt, denn sie fanden Sturms Leiche unversehrt vor. Ein Elfenjuwel, das auf seiner Brust leuchtete, wurde für dieses Wunder verantwortlich gemacht. All jene, die an jenem Tag die Grabstätte betraten, um ihre gefallenen Kameraden zu betrauern, sahen dieses strahlende Juwel und spürten Frieden, der den bitteren Schmerz ihrer Trauer linderte.
Die Ritter waren nicht die einzigen, um die getrauert wurde. In Palanthas waren auch viele Bürger gestorben. Männer, die Stadt und Familie verteidigt hatten, Frauen, die Haus und Kinder verteidigt hatten. Die Bürger von Palanthas verbrannten ihre Toten gemäß ihrer jahrhundertealten Sitte und verstreuten die Asche ihrer Lieben ins Meer, wo sie sich mit der Asche ihrer geliebten Stadt vermischte.
Astinus zeichnete alles so auf, wie es sich ereignet hatte. Er hatte sogar weitergeschrieben – so berichteten die Ästheten ehrfürchtig —, als Bertram einen Drakonier ohne fremde Hilfe zu Tode knüppelte, der gewagt hatte, in das Arbeitszimmer des Meisters einzudringen. Er schrieb immer noch, bis er sich bewußt wurde – neben den Geräuschen von Hämmern und Fegen und Klopfen und Schlurfen —, daß Bertram sein Licht behinderte.
Er hob den Kopf und runzelte die Stirn.
Bertram war zuvor nicht einmal angesichts des Feindes erbleicht, doch jetzt lief er leichenblaß an und wich unverzüglich zurück, so daß das Sonnenlicht wieder auf die Buchseite fallen konnte.
Astinus nahm sein Schreiben wieder auf. »Nun?« fragte er.
»Caramon Majere und ein – ein Kender sind hier, um mit Euch zu sprechen, Meister.« Wenn Bertram einen Dämonen aus der Hölle angekündigt hätte, so hätte kaum mehr Entsetzen in seiner Stimme gelegen als jetzt, als er das Wort »Kender« aussprach.
»Laß sie eintreten«, wies Astinus ihn an.
»Sie, Meister?« Bertram konnte es sich nicht verkneifen, das Wort entsetzt zu wiederholen.
Astinus sah auf, und seine Brauen furchten sich. »Der Drakonier hat doch nicht dein Gehör beeinträchtigt, oder, Bertram? Du hast hoffentlich keinen Schlag auf den Kopf erhalten?«
»N...nein, Meister.« Bertram errötete und eilte aus dem Raum. Vor Eile trat er dabei auf seine Roben.
»Caramon Majere und... und Tol...tolfuß B...bar...hufe«, verkündete der aufgeregte Bertram kurz darauf.
»Tolpan Barfuß«, korrigierte der Kender und streckte seine kleine Hand Astinus entgegen, der sie ernst und würdevoll schüttelte. »Und du bist Astinus von Palanthas«, fuhr Tolpan fort, und sein Haarzopf tanzte vor Aufregung. »Ich habe dich früher schon einmal getroffen, aber du erinnerst dich nicht, weil es noch nicht eingetreten ist. Oder besser gesagt, also, wenn ich darüber nachdenke, dann wird es auch gar nicht eintreten, nicht wahr, Caramon?«
»Nein«, stimmte ihm der große Mann zu. Astinus warf dann einen Blick zu Caramon und musterte ihn eingehend.
»Du ähnelst deinem Zwillingsbruder überhaupt nicht«, stellte er nüchtern fest, »aber andererseits hat Raistlin sich vielen Prüfungen unterzogen, die ihn körperlich und geistig gezeichnet haben. Und trotzdem ist etwas von ihm in deinen Augen...«
Der Historiker runzelte verwirrt die Stirn. Er verstand das alles nicht, und es gab bisher nichts in den Gefilden Krynns, was er nicht verstanden hatte. Folglich wurde er wütend.
Astinus wurde selten wütend. Seine Gereiztheit allein jagte eine Welle des Entsetzens durch die Ästheten. Aber jetzt war er wirklich wütend. Seine grauen Augenbrauen sträubten sich, seine Lippen zogen sich zusammen, und in seinen Augen lag ein Blick, der den Kender nervös umherblicken ließ. Tolpan fragte sich, ob er nicht irgend etwas außerhalb des Raums verloren hatte, das er brauchte – jetzt sofort!
»Was ist es?« fragte der Historiker schließlich und ließ seine Hand auf sein Buch fallen. Der Federhalter sprang dabei hoch, und die Tinte spritzte.
»Du bist von einem Geheimnis umgeben, Caramon Majere, und es gibt für mich einfach keine Geheimnisse! Ich weiß alles, was auf Krynns Gesicht vor sich geht. Ich kenne die Gedanken eines jeden Lebewesens! Ich sehe ihre Taten! Ich lese die Wünsche in ihren Herzen! Dennoch kann ich in deinen Augen nicht lesen!«
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