»Tolpan hat es dir bereits gesagt«, entgegnete Caramon gelassen. Er griff in seinen Rucksack und holte ein riesiges, ledergebundenes Buch hervor, das er sorgfältig vor dem Historiker auf den Schreibtisch legte.
»Das ist eines von meinen Büchern!« sagte Astinus und warf einen Blick darauf. Sein finsterer Blick vertiefte sich, und seine Stimme erhob sich, bis er tatsächlich schrie. »Woher kommt das? Keines meiner Bücher verschwindet ohne mein Wissen! Bertram...«
»Sieh dir das Datum an.«
Astinus funkelte Caramon eine Sekunde lang zornig an, dann glitt sein wütender Blick auf das Buch. Er sah das Datum auf dem Band. Er machte sich gerade bereit, wieder nach Bertram zu rufen. Aber der Schrei stockte in seiner Kehle und erstarb. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das Datum. Dann sackte er auf seinen Stuhl, sah von dem Buch auf Caramon und dann wieder auf das Buch.
»Es ist also die Zukunft, die ich in deinen Augen sehe!«
»Die Zukunft, das ist dieses Buch«, sagte Caramon und besah es noch einmal mit würdevollem Ernst.
»Wir waren dort«, sagte Tolpan und hüpfte hin und her. »Möchtest du davon hören? Es ist die allerschönste Geschichte. Verstehst du? Zuerst kamen wir zurück nach Solace, das aber überhaupt nicht wie Solace aussah. Ich dachte, es wäre tatsächlich der Mond, weil ich an einen Mond gedacht habe, als wir das magische Gerät benutzten und...«
»Pst, Tolpan«, sagte Caramon sanft. Er richtete sich auf, legte seine Hand auf die Schulter des Kenders und verließ ruhig den Raum. Als Tolpan entschlossen aus der Tür bugsiert wurde, sah er noch einmal zurück. »Auf Wiedersehen!« rief er und winkte. »Nett, dich wiederzusehen, äh, vor, uh, nach, nun ja, wie auch immer.«
Aber Astinus hörte und bemerkte ihn nicht. Der Tag, an dem er das Buch von Caramon Majere erhielt, war der einzige Tag in der gesamten Geschichte von Palanthas, an dem nur ein einziger Eintrag aufgezeichnet wurde.
»An diesem Tag, als die Spätwacht auf 14 anstieg, brachte mir Caramon Majere die ›Chroniken von Krynn‹, Band 2000. Ein Band, von mir geschrieben, den ich niemals schreiben werde.«
Das Begräbnis von Elistan war für die Bevölkerung von Palanthas gleichzeitig das Begräbnis ihrer geliebten Stadt. Die Zeremonie wurde in der Morgendämmerung abgehalten, wie es Elistans Wunsch gewesen war, und alle Bewohner von Palanthas wohnten ihr bei – alt, jung, reich, arm. Die Verletzten, die transportfähig waren, wurden aus ihren Häusern getragen, und ihre Pritschen lagen auf dem versengten und geschwärzten Gras des einst so wunderschönen Tempelrasens.
Unter ihnen war auch Dalamar. Niemand sagte etwas, als dem Dunkelelfen von Tanis und Caramon über den Rasen geholfen wurde, damit er einen Platz unter einem Wäldchen angebrannter Espen einnehmen konnte. Denn es ging das Gerücht, daß der junge Zauberlehrling gegen die Finstere Herrin – wie Kitiara genannt wurde – gekämpft und sie besiegt und somit die Zerstörung ihrer Streitkräfte herbeigeführt hatte.
Elistan hatte in seinem Tempel beerdigt werden wollen, aber das war jetzt nicht mehr möglich – der Tempel glich nur einer leeren Marmorschale. Herrscher Amothud hatte seine Familiengruft angeboten, aber Crysania hatte den Vorschlag abgelehnt. Sie erinnerte sich, daß Elistan seinen Glauben in den Sklavenminen von Pax Tarkas gefunden hatte, und entschied als neues Oberhaupt der Kirche, daß er neben dem Tempel in einer unterirdischen Höhle seine letzte Ruhe finden sollte.
Zwar waren einige schockiert, aber niemand stellte die Anordnung der Verehrten Tochter in Frage. Die Höhlen wurden gesäubert und geweiht, und eine marmorne Totenbahre wurde aus den Resten des Tempels gebaut. Und von jener Zeit an wurden auch in den Glanzzeiten der Kirche, die noch kommen sollten, alle Priester an diesem schlichten Ort zur letzten Ruhe gebettet. Er sollte bald als einer der heiligsten Orte auf Krynn bekannt werden.
Das Volk ließ sich schweigend auf dem Rasen nieder. Die Vögel, die nichts von Tod oder Krieg oder Trauer wußten, sondern lediglich sahen, daß die Sonne aufging und sie an einem strahlenden Morgen am Leben waren, füllten die Luft mit ihrem Gesang. Die Sonnenstrahlen färbten die Berggipfel golden und vertrieben die Dunkelheit der Nacht. Sie brachten auch den Herzen Licht, die schwer vor Kummer waren.
Nur eine Person erhob sich, um für Elistan eine Grabrede zu halten, und von allen wurde nie bezweifelt, daß sie am besten geeignet war. Nicht nur, weil sie jetzt seinen Platz als Oberhaupt der Kirche einnahm – so wie er es gewünscht hatte —, sondern weil sie jedem Bürger von Palanthas seinen Verlust und seinen Schmerz zu verkörpern schien.
An jenem Morgen, so hieß es, geschah es zum ersten Mal, daß sie sich von ihrem Bett erhob, seit Tanis, der Halb-Elf, sie vom Turm der Erzmagier zu den Stufen der Großen Bibliothek gebracht hatte, wo die Kleriker sich um die Verletzten und Sterbenden kümmerten. Sie war dem Tod sehr nahe gewesen. Aber ihr Glaube und die Gebete der Kleriker hatten sie ins Leben zurückgerufen. Ihr Augenlicht konnten sie jedoch nicht wiederherstellen.
Crysania stand vor ihnen an jenem Morgen, und ihre Augen schauten direkt in die Sonne, die sie niemals wieder sehen würde. Die Sonnenstrahlen glitzerten in ihrem schwarzen Haar und rahmten ein Gesicht ein, das durch den Ausdruck eines tiefen beständigen Mitgefühls und Glaubens wunderschön geworden war.
»So wie ich in der Dunkelheit stehe«, sagte sie, ihre klare Stimme erhob sich süß und rein unter dem Gesang der Lerchen, »spüre ich die Wärme des Lichts auf meiner Haut, und ich weiß, daß mein Gesicht auf die Sonne gerichtet ist. Ich kann in die Sonne sehen, denn meine Augen sind für ewig in Dunkelheit gehüllt. Aber wenn ihr, die ihr sehen könnt, zu lange in die Sonne schaut, werdet ihr euer Augenlicht verlieren. Aber auch jene, die zu lange in der Dunkelheit leben, verlieren allmählich das ihre.
Dies ist Elistans Lehre – daß es Sterblichen nicht bestimmt ist, nur an der Sonne oder nur im Schatten zu leben. Beides ist gleichermaßen wichtig. In beiden stecken Gefahren, falls sie mißbraucht werden, beide bieten aber auch ihre Belohnungen. Wir müssen durch unsere Prüfungen des Blutes, der Dunkelheit und des Feuers gehen...« Ihre Stimme zitterte und schlug an dieser Stelle um. Jene, die ganz in ihrer Nähe standen, bemerkten Tränen auf ihren Wangen. Aber als sie weitersprach, war ihre Stimme voller Kraft und Energie. Ihre Tränen glitzerten im Sonnenlicht. »Wir müssen durch diese Prüfungen gehen, wie schon Huma durch sie gegangen ist, mit großem Verlust, mit großem Opfer, aber stark in dem Wissen, daß unser Geist leuchtet und wir vielleicht unter all den Sternen im Universum am hellsten strahlen.
Denn auch wenn einige sich entscheiden, auf den Pfaden der Nacht zu wandeln, und zu dem schwarzen Mond schauen, der sie führt, während andere auf den Pfaden des Tages wandeln, so kann das beschwerliche Wandern auf beiden Wegen, so unwirtlich und steinig sie sein mögen, durch die Berührung einer Hand oder die Stimme eines Freundes erleichtert werden. Die Fähigkeit, zu lieben und Anteil zu nehmen, ist uns allen gegeben – das größte Geschenk der Götter an einen jeden unter dieser Sonne.
Unsere wunderschöne Stadt ist in Flammen untergegangen«, fuhr Crysania fort, und ihre Stimme wurde weicher. »Wir haben viele verloren, die wir liebten, und es mag scheinen, daß das Leben für uns zu einer schweren Last geworden ist. Aber streckt eure Hand aus, und sie wird die Hand eines anderen berühren, der sie euch entgegenstreckt, und gemeinsam findet ihr die Kraft und die Hoffnung, die ihr braucht, um weiterzugehen.«
Als die Kleriker nach den Zeremonien Elistans Leichnam zu seiner letzten Ruhestätte getragen hatten, suchten Caramon und Tolpan Crysania auf. Sie fanden sie bei den Klerikern. Ihre Hand ruhte auf dem Arm einer jungen Frau, die ihre Führerin war.
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