Mortmain schaute von Will zu Jem und wieder zurück. Dann schien er aufzugeben, ließ die Schultern hängen und wandte sich an Tessa. »Wenn Sie Ihrem Bruder bitte meine Entschuldigung übermitteln würden ...«
»Ich denke, eher nicht«, entgegnete Tessa. »Aber trotzdem vielen Dank, Mr Mortmain.«
Nach einer langen Pause nickte Mortmain und wandte sich schließlich ab. Tessa, Will und Jem schauten zu, wie er in seine Kutsche kletterte. Dann erschallte lautes Hufgeklapper durch den Innenhof, während das Pferdegespann einen Bogen beschrieb und schließlich durch das Institutstor fuhr.
»Was werdet ihr jetzt tun?«, fragte Tessa in dem Moment, als die Kutsche außer Sicht war. »Ich meine, wegen der Dunklen Schwestern?«
»Der Sache nachgehen, natürlich«, verkündete Will mit glühenden Wangen und vor Begeisterung funkelnden Augen. »Dein Bruder hat gesagt, dass de Quincey Dutzende dieser Kreaturen zur Verfügung stehen, und Mortmain spricht sogar von Hunderten. Falls Mortmain mit seiner Behauptung richtig liegt, müssen wir uns die Dunklen Schwestern vorknöpfen, ehe sie ihre Verquickungsformel anwenden können, denn sonst könnte die Brigade sich unversehens in einem Gemetzel wiederfinden.«
»Aber ... wäre es nicht besser, ihr würdet Henry und Charlotte und die anderen warnen?«
»Und wie?« Will gelang es, dieser kurzen Gegenfrage einen schneidenden Ton zu verleihen. »Vermutlich könnten wir Thomas losschicken, um die Brigade zu warnen, aber wir haben keine Garantie, dass er es rechtzeitig bis dorthin schafft. Und wenn es den Dunklen Schwestern gelingt, die Armee zum Leben zu erwecken, würde er schlichtweg mit den anderen getötet werden. Nein, wir müssen uns die Dunklen Schwestern allein vorknöpfen. Eine der beiden habe ich schon mal getötet, also sollten Jem und ich in der Lage sein, es mit beiden aufzunehmen.«
»Aber vielleicht hat Mortmain sich ja geirrt«, gab Tessa zu bedenken. »Ihr habt schließlich nur sein Wort; möglicherweise hat man ihn bewusst falsch informiert.«
»Möglicherweise«, räumte Jem ein. »Aber kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn er sich nicht irrt? Und wir seine Warnung ignorieren? Die Konsequenzen sind nicht abzusehen und könnten die völlige Vernichtung der Brigade nach sich ziehen.«
Tessa wusste, dass er recht hatte. Ihr sank der Mut.
»Vielleicht könnte ich ja auch helfen. Schließlich habe ich schon mal mit euch zusammen gegen die Dunklen Schwestern gekämpft. Wenn ich euch begleiten würde ...«
»Nein«, sagte Will entschlossen. »Das kommt nicht infrage. Uns steht derart wenig Zeit zur Vorbereitung zur Verfügung, dass wir uns völlig auf unsere Kampffähigkeiten verlassen müssen. Und du besitzt keinerlei Erfahrung.«
»Bei der Soiree ... da habe ich gegen de Quincey gekämpft ...«
»Ich habe Nein gesagt.« Wills Ton war endgültig. Tessa schaute zu Jem, doch auch der zuckte nur entschuldigend mit den Achseln, als wollte er damit sagen, dass er es zwar bedaure, Will jedoch recht habe. Erneut wandte Tessa sich an Will. »Aber was ist mit Boadicea?«
Einen Moment lang hatte es den Anschein, als hätte Will vergessen, was er ihr in der Bibliothek erzählt hatte. Doch dann zuckten seine Mundwinkel, als wollte er ein Lächeln unterdrücken, allerdings ohne Erfolg.
»Eines Tages wirst du wie Boadicea sein, Tessa«, sagte er, »aber nicht heute Abend.« Dann drehte er sich zu Jem um: »Wir sollten Thomas informieren, damit er die Kutsche vorbereitet. Highgate liegt nicht gerade um die Ecke und wir müssen uns beeilen.«
Der dunkle Nachthimmel lag bereits über der ganzen Stadt, als Will und Jem hinaus in den Innenhof traten, bereit, die Kutsche zu besteigen. Thomas überprüfte noch ein letztes Mal das Zaumzeug der Pferde, während Will ein Runenmal auf Jems entblößten Unterarm auftrug, wobei seine Stele in der Dunkelheit hell aufblitzte.
Tessa stand schweigend und missmutig auf den Stufen und schaute den dreien zu — mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen.
Nachdem Thomas sich vergewissert hatte, dass das Pferdegeschirr sicher befestigt war, machte er kehrt und lief leichtfüßig die Stufen hinauf. Doch Tessa stoppte ihn mit einer Handbewegung.
»Brechen sie jetzt auf?«, fragte sie. »War das jetzt alles?«
Thomas nickte. »Es ist alles zum Aufbruch bereit, Miss.« Er hatte versuchte, Jem und Will zu überreden, ihn mitzunehmen. Aber Will machte sich anscheinend nun doch Sorgen, dass Charlotte auf Thomas wütend sein könnte, wenn er sich an ihrem Unterfangen beteiligte, und hatte ihm deshalb aufgetragen, im Institut zu bleiben.
»Außerdem brauchen wir einen Mann im Haus«, hatte Will gesagt, »jemanden, der das Institut schützt, solange wir fort sind. Und Nathaniel zählt in dieser Hinsicht nicht«, hatte er mit einem Seitenblick auf Tessa hinzugefügt.
Nun zog Will Jems Ärmel hinunter und bedeckte die frisch aufgetragenen Runenmale, während Jem ihn anschaute und ruhig wartete, bis sein Freund seine Stele wieder eingesteckt hatte. Im Licht der Fackeln wirkten ihre Gesichter wie weiße Flecken.
Unwillkürlich hob Tessa die Hand, ließ sie dann aber langsam wieder sinken. Was hatte Jem noch mal gesagt? »Schattenjäger verabschieden sich nicht, jedenfalls nicht kurz vor einer Schlacht. Und ›viel Glück‹ wünschen wir uns auch nicht. Stattdessen verhalten wir uns so, als sei die Rückkehr eine Gewissheit und keine Glückssache.«
Offenbar hatten die beiden jungen Männer Tessas Geste bemerkt und schauten nun gleichzeitig zu ihr. Tessa glaubte, Wills blaue Pupillen selbst aus dieser Entfernung sehen zu können. Ein seltsamer Ausdruck lag in seinen Augen, als sich ihre Blicke trafen — der Ausdruck eines Menschen, der gerade aufgewacht ist und sich fragt, ob das, was er vor sich sieht, Traum oder Wirklichkeit ist.
Jem löste sich als Erster aus seiner Starre und lief die Stufen zu Tessa hinauf. Als er näher kam, erkannte sie seine glühenden Wangen und die funkelnden, fiebrigen Augen und fragte sich, wie hoch die Dosis des Substrats gewesen sein mochte, die Will seinem Freund zugestanden hatte, damit er kampfbereit war.
»Tessa ...«, setzte Jem an.
»Ich wollte mich gar nicht verabschieden«, erwiderte sie hastig. »Aber ... es erschien mir so merkwürdig, euch ohne jeden Gruß gehen zu lassen.«
Jem musterte sie mit einem eigenartigen Blick und tat dann etwas, das Tessa überraschte: Er nahm ihre Hand, drehte den Handrücken nach oben, sodass Tessa ihre eingerissenen Fingernägel und die noch nicht vollständig verheilten Wunden auf ihren Fingern deutlich sehen konnte, und hauchte einen Kuss auf ihre Hand ... nur eine leichte Berührung seiner Lippen. Als seine seidenweichen Haare dabei ihr Handgelenk streiften, verspürte sie einen elektrisierenden Schlag, der sie zusammenzucken ließ. Sprachlos schaute sie zu, wie Jem sich wieder aufrichtete und ein kleines Lächeln seinen Mund umspielte.
»Mizpa«, sagte er.
Leicht verwirrt blinzelte sie ihn an. »Wie bitte?«
»Das ist eine Art Abschiedsgruß, ohne sich tatsächlich zu verabschieden«, erklärte Jem. »Er bezieht sich auf eine Stelle in der Bibel: ›Und Mizpa, weil er sprach: Jehova sei Wächter zwischen mir und dir, wenn wir einer vor dem anderen verborgen sein werden!‹ « Tessa erhielt keine Chance, irgendetwas darauf zu erwidern — denn Jem hatte bereits auf dem Absatz kehrtgemacht und sprang die Stufen hinunter zu Will, der reglos wie eine Statue am Fuß der Treppe stand. Tessa glaubte zu erkennen, dass seine schwarz behandschuhten Hände zu Fäusten geballt waren, aber vielleicht handelte es sich auch nur um eine optische Täuschung im flackernden Licht der Fackeln. Denn als Jem ihn leicht an der Schulter berührte, drehte Will sich lachend um und schwang sich — ohne weiteren Blick in Tessas Richtung — auf den Kutschbock. Dann nahm er die Peitsche, ließ sie einmal über den Köpfen der Pferde durch die Luft knallen und lenkte die Kutsche durch das Tor, dessen Flügel, wie von unsichtbaren Händen bewegt, lautlos hinter dem Gespann zuschwangen. Tessa hörte lediglich, wie das Schloss einrastete — ein lautes Klicken in der Abendstille — und wie einen Moment später irgendwo in der Stadt Glocken läuteten.
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