Als sie mit dem Kämmen fertig war, stürmte sie hinaus in den Flur — und wäre fast mit Will zusammengestoßen, der an der gegenüberliegenden Wand lehnte und eingehend seine Nägel studierte. Wie üblich schenkte er der Etikette nicht die geringste Beachtung: Statt Weste und Gehrock trug er nur ein weißes Hemd, über dessen Brust kreuzweise breite Ledergurte verliefen. Offenbar hatte er sich eine lange, schmale Klinge auf den Rücken geschnallt — Tessa konnte das Heft der Waffe über seiner Schulter aufragen sehen — und auch in seinen Gürtel hatte er weitere lange weiße Seraphschwerter geschoben.
»Ich ...«, setzte Tessa an, doch dann fielen ihr wieder Jessamines Worte ein: »Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, wie du Will mit großen Hundeaugen ansiehst?« Die Elbenlichter im Korridor flackerten leise. Tessa hoffte inständig, dass ihr Licht nicht ausreichte, um Will die verräterische Röte auf ihren Wangen zu zeigen. »Ich dachte, du würdest die Brigade heute Abend nicht begleiten«, presste sie schließlich hervor, um wenigstens irgendetwas zu sagen.
»Das habe ich auch nicht vor. Ich bringe lediglich diese Waffen hinunter zu Charlotte und Henry, die bereits im Innenhof warten. Benedict Lightwood hat angeboten, seine Kutsche zu schicken; die ist deutlich schneller als unsere. Sie müsste jeden Moment hier eintreffen.« Tessa glaubte, ein Lächeln um Wills Lippen zu sehen, war sich aufgrund des Dämmerlichts im Flur aber nicht vollkommen sicher. »Sorgst du dich etwa um meine Sicherheit? Oder wolltest du mir vielleicht sogar ein Andenken als Zeichen deiner Gunst überreichen, das ich dann wie Wilfred of Ivanhoe mit in die Schlacht tragen kann?«
»Dieses Buch habe ich nie gemocht«, erwiderte Tessa. »Rowena war ja so eine dumme Nuss. Ivanhoe hätte sich für Rebecca entscheiden sollen.«
»Für die dunkelhaarige Maid und nicht für das blonde Edelfräulein? Wirklich?«, entgegnete Will und Tessa war sich nun ziemlich sicher, dass er lächelte.
»Will ...?«
»Ja?«
»Glaubst du, der Brigade wird es gelingen, ihn zu töten? De Quincey, meine ich.«
»Ja«, verkündete Will ohne das geringste Zögern.
»Die Zeit der Verhandlungen ist vorüber. Wenn du jemals einen Terrier beim Rattenbeißen erlebt hast ... nun ja, vermutlich hattest du bisher keine Gelegenheit dazu. Aber genau so wird es heute Abend ablaufen:
Die Brigade wird einen Vampir nach dem anderen erledigen, bis sie alle vernichtet sind.«
»Du meinst, in London wird es keine Vampire mehr geben?«
»Vampire wird es immer geben«, erwiderte Will achselzuckend. »Aber de Quinceys Clan wird von der Erdoberfläche verschwunden sein.«
»Und wenn alles vorüber ist, wenn der Magister nicht mehr existiert, dann gibt es für Nate und mich vermutlich auch keinen Grund mehr, noch länger im Institut zu bleiben, oder?«
»Ich ...« Will schien aufrichtig bestürzt. »Ich vermute ... nun ja, das ist wahrscheinlich richtig. Ich könnte mir vorstellen, dass du es vorziehst, an einem weniger ... gewaltbeherrschten Ort zu wohnen. Vielleicht bekommst du ja sogar ein paar der schöneren Ecken Londons zu sehen. Westminster Abbey ...«
»Am liebsten würde ich nach Hause zurückkehren«, sagte Tessa. »Nach New York.«
Will schwieg.
Das Elbenlicht im Korridor war inzwischen fast erloschen und in den Schatten konnte Tessa Wills Gesicht kaum noch wahrnehmen.
»Es sei denn, es gäbe für mich einen Grund hierzubleiben«, fuhr sie fort, selbst ein wenig verwundert, was sie damit gemeint haben mochte. Es fiel ihr deutlich leichter, auf diese Weise mit Will zu reden — wenn sie sein Gesicht nicht sehen und nur seine Anwesenheit dicht vor ihr im dunklen Flur spüren konnte.
Im nächsten Moment fühlte sie, wie seine Finger leicht über ihren Handrücken streiften. »Tessa«, sagte er leise. »Bitte mach dir keine Sorgen. Schon bald wird alles geregelt sein.«
Tessas Herz pochte wild und schmerzhaft gegen ihre Rippen. Schon bald würde was geregelt sein? Er konnte unmöglich das Gleiche im Sinn haben wie sie — er musste irgendetwas anderes gemeint haben.
»Verspürst du denn nicht den Wunsch, nach Hause zurückzukehren?«, fragte sie atemlos.
Will bewegte sich nicht. Seine Finger berührten noch immer ihren Handrücken. »Ich werde niemals nach Hause zurückkehren können.«
»Aber warum denn nicht?«, wisperte Tessa, doch es war bereits zu spät. Sie spürte, wie er sich innerlich von ihr entfernte und einen Sekundenbruchteil später auch seine Hand zurückzog. »Ich weiß, dass deine Eltern hierher zum Institut gekommen sind, als du gerade zwölf warst, und dass du dich geweigert hast, mit ihnen zu sprechen. Aber warum? Was haben sie dir angetan, das so schrecklich war?«
»Sie haben gar nichts getan.« Will schüttelte den Kopf. »Ich muss gehen. Henry und Charlotte erwarten mich.«
»Will«, setzte Tessa an, doch er hatte sich schon abgewandt und schritt davon — eine schlanke dunkle Gestalt, die in Richtung Treppe eilte. »Will«, rief sie ihm hinterher. »Will, wer ist Cecily?«
Aber der junge Schattenjäger war bereits verschwunden.
Als Tessa in den Salon zurückkehrte, saßen Nate und Jessamine wieder beieinander. Tessa marschierte direkt zum Fenster und schaute hinaus: Jem, Henry, Will und Charlotte hatten sich unten im Innenhof versammelt und warfen in der Abendsonne lange dunkle Schatten auf die Stufen zur Institutstür. Henry trug sich gerade eine weitere Heilrune auf, während Charlotte den beiden jungen Männern letzte Anweisungen zu erteilen schien. Jem nickte, doch selbst aus der Entfernung konnte Tessa erkennen, dass Will, der mit verschränkten Armen dastand, nur widerstrebend zuhörte. Er möchte sie gern begleiten, schoss es ihr durch den Kopf. Er will nicht hierbleiben. Vermutlich verspürte Jem den gleichen Wunsch, doch er würde sich deswegen niemals beschweren. Das war der große Unterschied zwischen den beiden ... jedenfalls einer der Unterschiede, überlegte sie.
»Tessie, bist du sicher, dass du nicht mitspielen möchtest?«, wandte Nate sich an seine Schwester. Er saß wieder in seinem Lehnsessel, eine Decke über den Beinen. Zwischen ihm und Jessamine stand ein kleiner Beistelltisch, auf dem Tessa neben einem silbernen Teeservice und einem Teller mit Sandwiches ein Kartenspiel entdeckte. Nates Haare wirkten feucht, als hätte er sie gewaschen, und er trug Jems Kleidung. Tessa konnte zwar deutlich sehen, dass Nathaniel abgenommen hatte, doch Jem besaß eine solch schlanke Statur, dass sein Hemd ihrem Bruder an Hals und Manschetten noch immer etwas zu eng war — trotz der Tatsache, dass Jem breitere Schultern hatte, wodurch Nate in Jems Gehrock wiederum ein wenig verloren wirkte.
Langsam wandte Tessa sich wieder dem Fenster zu:
Inzwischen war eine große schwarze Kutsche vorgefahren, auf deren Schlag ein Wappen mit zwei brennenden Fackeln prangte. Während Henry und Charlotte einstiegen, waren Will und Jem längst aus der Sicht verschwunden.
»Natürlich ist sie sich sicher«, rümpfte Jessamine die Nase, als Tessa nicht antwortete. »Sehen Sie sie sich doch nur mal an: ein Abbild unverhohlener Missbilligung.«
Tessa riss sich vom Fenster los. »Missbilligung wäre zu viel gesagt — es erscheint mir nur nicht richtig, jetzt Karten zu spielen, während Henry und Charlotte und die anderen da draußen ihr Leben riskieren.«
»Jaja, das sagtest du bereits.« Jessamine legte ihre Karten nieder. »Also wirklich, Tessa. Diese Situation erleben wir hier im Institut andauernd: Sie ziehen in den Kampf hinaus, sie kehren zurück. Weiß Gott nichts, worüber man sich den Kopf zerbrechen müsste.«
Tessa biss sich auf die Lippe. »Ich habe das Gefühl, dass ich mich wenigstens hätte verabschieden oder viel Glück wünschen sollen, aber bei den ganzen hektischen Vorbereitungen ...«
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