Doch er war ihr Bruder und sie liebte ihn. Und wie jedes Mal, wenn es um Nate ging, erwachte der alte Beschützerinstinkt in ihr. »Jessamine hat recht«, sagte sie laut, um sich über die wütenden Stimmen im Raum verständlich zu machen. »Es hätte ihm nichts genutzt, de Quinceys Forderungen abzulehnen, und es bringt auch jetzt nichts mehr, darüber zu streiten. Jetzt geht es nur noch darum, dass wir mehr über de Quinceys Pläne erfahren. Weißt du irgendetwas darüber, Nate? Hat er dir erzählt, was er von mir wollte?«
Nathaniel schüttelte den Kopf. »Nachdem ich eingewilligt hatte, dich nach England zu holen, hat er mich in seiner Stadtvilla gefangen gehalten. Dann zwang er mich, ein Kündigungsschreiben an Mortmain zu senden — der arme Mann muss gedacht haben, dass ich ihm seine Großzügigkeit mit schlechter Münze danke. De Quincey hatte nicht vor, mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, bis er dich endlich in die Finger bekommen würde — ich diente als seine Rückversicherung. Er gab den Dunklen Schwestern meinen Ring, um dir zu beweisen, dass ich mich in ihrer Macht befand. Außerdem versprach er mir wieder und wieder, dass er dir kein Leid zufügen würde ... dass er die Dunklen Schwestern einfach nur angewiesen habe, dich in der Nutzung deiner Fähigkeiten zu unterrichten. Die Schwestern mussten ihm täglich von deinen Fortschritten berichten; deshalb wusste ich wenigstens, dass du noch am Leben warst.
Und da ich de Quinceys Haus ohnehin nicht verlassen konnte, habe ich nach einer Weile damit begonnen, die Machenschaften des Pandemonium Clubs genauer zu beobachten. Ich erkannte, dass die Organisation eine klar umrissene Hierarchie besaß. Die unterste Stufe bildeten diejenigen, die kaum etwas zu sagen hatten, wie Mortmain und seinesgleichen. De Quincey und die anderen Höhergestellten duldeten ihre Gesellschaft hauptsächlich wegen ihres Geldes, und damit sie den Club auch weiterhin frequentierten, köderten sie sie immer wieder mit kurzen Demonstrationen und kleinen Einblicken in die Welt der Magie und der Schattenwesen. Über ihnen stand eine Gruppe von Mitgliedern mit mehr Macht und Einfluss im Club, wie die Dunklen Schwestern — allesamt übernatürliche Wesen und kein einziger Mensch darunter. Und an der Spitze schließlich thronte de Quincey, den die anderen als den ›Magister‹ bezeichneten.
Die Oberschicht des Clubs traf sich oft zu Versammlungen, zu denen Menschen und untere Ränge keine Einladung erhielten. Bei einer dieser Zusammenkünfte hörte ich erstmals von den Schattenjägern. De Quincey verachtet die Nephilim«, wandte Nate sich an Henry und Charlotte. »Er hegt einen tiefen Groll gegen alle Schattenjäger — gegen Sie. Und er redete ständig davon, wie viel besser alles wäre, wenn die Nephilim vernichtet würden und die Schattenweltler in Frieden ihren Geschäften nachgehen könnten ...«
»Was für ein Unsinn!«, stieß Henry aufrichtig gekränkt hervor. »Ich wüsste nicht, welche Sorte von Frieden ihm vorschwebt, wenn es uns Schattenjäger nicht mehr gäbe.«
»De Quincey sprach auch davon, dass bisher nicht die geringste Chance bestanden hätte, die Schattenjäger zu besiegen, weil deren Waffen allen anderen weit überlegen seien. Der Sage nach habe Gott die Nephilim zu überragenden Kriegern gemacht, die kein Lebewesen jemals vernichten könne. Daraufhin hat de Quincey sich wohl gedacht: ›Warum nicht eine Kreatur erschaffen, die keinerlei Leben in sich trägt?‹«
»Die Automaten«, warf Charlotte ein. »Seine Klockwerk-Armee.« Verwirrt starrte Nate die Schattenjägerin an: »Sie haben sie gesehen?«
»Ein paar dieser Kreaturen haben Ihre Schwester gestern Abend angegriffen«, erklärte Will. »Glücklicherweise waren wir Schattenjäger-Monster zur Stelle, um sie zu retten.«
»Wobei man sagen muss, dass sie sich gar nicht schlecht geschlagen hat«, murmelte Jem.
»Wissen Sie etwas über diese Automaten?«, fragte Charlotte drängend und beugte sich begierig vor. »Irgendetwas, das uns weiterhelfen könnte? Hat de Quincey in Ihrer Gegenwart je darüber gesprochen?«
Nate ließ sich gegen die Sessellehne sinken. »Ja, schon. Aber das Meiste habe ich nicht verstanden. Ich bin technisch nicht sehr begabt ...«
»Ach, die Sache ist ganz einfach«, mischte Henry sich in einem beruhigenden Ton ein — wie jemand, der eine verängstigte Katze zu besänftigen versucht.
»Im Augenblick funktionieren de Quinceys Kreaturen nur aufgrund eines inneren Mechanismus: Sie müssen aufgezogen werden, genau wie Uhren. Aber wir haben in seiner Bibliothek die Abschrift einer Zauberformel gefunden, die den Schluss nahelegt, dass er nach einer Möglichkeit sucht, seine Kreaturen mit Leben zu erfüllen ... ihre Klockwerk-Hülle mit Dämonenenergie zu verquicken und damit zum Leben zu erwecken.«
»Oh, das meinen Sie! Ja, darüber hat er mehrfach gesprochen«, erwiderte Nathaniel, erfreut wie ein kleines Kind, das im Unterricht die richtige Antwort zu geben wusste.
Tessa konnte förmlich sehen, wie die Schattenjäger die Ohren spitzten — endlich erhielten sie die Sorte von Informationen, die sie wirklich interessierte.
»Das war einer der Gründe, warum de Quincey die Dunklen Schwestern überhaupt in Dienst genommen hat — nicht nur um Tessa auszubilden«, fuhr Nate fort. »Die Schwestern sind Hexen und sollten für ihn untersuchen, auf welchem Weg eine Verquickung vorgenommen werden konnte. Und das ist ihnen auch gelungen. Zwar erst vor ein paar Wochen, aber sie haben einen Weg gefunden.«
»Tatsächlich?«, fragte Charlotte bestürzt. »Aber warum hat de Quincey diese Formel noch nicht angewendet? Worauf wartet er denn?«
Nate schaute von Charlottes besorgter Miene zu Tessa und danach in die Runde. »Ich ... ich dachte, Sie wüssten das. De Quincey sagte, dass die Verquickungsformel nur bei Vollmond durchgeführt werden könne. Bei Vollendung des zweiten Mondviertels werden die Dunklen Schwestern sich ans Werk machen und dann ... de Quincey hat Dutzende dieser Kreaturen in seinem Versteck gehortet. Und ich weiß, dass er vorhat, noch viel mehr dieser KlockwerkMonster zu erschaffen — Hunderte, wenn nicht gar Tausende. Vermutlich wird er sie dann mit Leben erfüllen lassen und ...«
»Bei Vollmond?«, hakte Charlotte nach, warf einen Blick aus dem Fenster und biss sich auf die Lippe.
»Das wird schon sehr bald sein — ich glaube, morgen Abend.«
Jem richtete sich ruckartig auf. »Ich laufe kurz in die Bibliothek und überprüfe das in der Mondphasentabelle. Bin gleich wieder da«, verkündete er und verschwand im nächsten Moment durch die Tür.
»Sind Sie sich auch ganz sicher?«, wandte Charlotte sich erneut an Nate.
Nate nickte und schluckte dann laut. »Als Tessa den Dunklen Schwestern entkommen konnte, gab de Quincey mir die Schuld an ihrer Flucht, obwohl ich überhaupt nichts davon gewusst hatte. Er verkündete, dass er mich zur Strafe den Kindern der Nacht überlassen werde und diese mir sämtliches Blut aus dem Leib saugen würden. Dann sperrte er mich tagelang ein, bis zum Abend der Soiree, kümmerte sich aber nicht mehr darum, was er in meiner Gegenwart sagte oder besser verschwiegen hätte. Denn er wusste, dass ich ohnehin sterben würde. Ich hörte, wie er davon sprach, dass es den Dunklen Schwestern gelungen sei, die Verquickungsformel fertigzustellen. Und dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis alle Nephilim vernichtet wären und die Mitglieder des Pandemonium Clubs London regieren würden.«
»Haben Sie irgendeine Idee, wo de Quincey sich im Moment verborgen halten könnte — nun, da seine Villa niedergebrannt ist?«, fragte Will mit rauer Stimme.
Nate musterte ihn erschöpft. »Er hat in Chelsea einen Schlupfwinkel. Wahrscheinlich versteckt er sich dort zusammen mit seinen Anhängern — sein Clan umfasst bestimmt noch hundert weitere Vampire, die an jenem Abend nicht in seiner Villa weilten. Ich weiß genau, wo dieser Ort ist. Ich könnte ihn auf einem Stadtplan zeigen ...« Er verstummte abrupt, als Jem mit weit aufgerissenen Augen in den Salon hereinplatzte.
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