Allerdings duldete Thomas nicht, dass Will derart blutbeschmiert in die geliehene Kutsche stieg. Er verkündete, er sei in weniger als »einem Minütchen« wieder zurück, und zog los, um ein feuchtes Handtuch zu besorgen. Währenddessen lehnte Will am Schlag der Kutsche und sah zu, wie die Mitglieder der Brigade wie Ameisen in de Quinceys Haus hinein- und wieder hinauseilten und Dokumente und Mobiliar aus den Brandruinen retteten.
Nach ein paar Minuten kehrte Thomas mit einem feuchten Lappen zurück, warf ihn Will zu und lehnte sich mit seinen breiten Schultern ebenfalls gegen die Kutsche, die unter seinem Gewicht leicht schwankte. Charlotte hatte Thomas stets ermutigt, gemeinsam mit Jem und Will das harte körperliche Trainingsprogramm der Schattenjäger zu absolvieren, und im Laufe der Jahre war der einstmals schmächtige Junge zu einem derart großen und muskulösen Mann herangewachsen, dass jeder Schneider bei seinem Anblick verzweifelte. Will mochte zwar der bessere Krieger sein — allein schon aufgrund seines Schattenjägerblutes —, doch Thomas’ überragende körperliche Erscheinung ließ niemanden unbeeindruckt.
Manchmal erinnerte Will sich an die Zeit zurück, als Thomas im Institut eingetroffen war. Er entstammte einer Familie, die den Nephilim über viele Jahre gedient hatte, war aber bei seiner Geburt so zart gewesen, dass seine Eltern sich keine großen Überlebenshoffnungen gemacht hatten. Doch Thomas erwies sich als zäh und kam im Alter von zwölf Jahren ins Institut; auch damals war er noch so klein gewesen, dass er kaum wie ein Neunjähriger wirkte. Will hatte sich über Charlotte lustig gemacht, weil sie ihn einstellen wollte, aber insgeheim hatte er gehofft, Thomas würde bleiben, damit er nicht mehr der einzige Junge seines Alters im Haus war. Und nach einer Weile war eine Art Freundschaft zwischen ihnen entstanden, zwischen dem Schattenjäger und dem Stalljungen — bis Jem aufgetaucht war und Will Thomas fast vollständig vergessen hatte. Allerdings hatte Thomas ihm das nie übel genommen und ihn weiterhin mit derselben Freundlichkeit behandelt, die er auch allen anderen entgegenbrachte.
»Schon irgendwie komisch, dass hier so ein Tamtam is’ und keiner der Nachbarn auch nur die Nase aus 'er Tür steckt«, sagte Thomas nun, mit einem bedeutungsvollen Blick in beide Richtungen der Straße. Charlotte hatte stets darauf bestanden, dass die Bediensteten innerhalb der Institutsmauern »korrektes«
Englisch sprachen, aber Thomas’ East-End-Akzent brach manchmal doch noch hervor — je nachdem, ob er sich an ihre Anweisung erinnerte oder nicht.
»Du darfst nicht vergessen, dass das ganze Gelände unter einem extrem starken Zauberglanz liegt«, erwiderte Will und wischte sich mit dem feuchten Lappen über Gesicht und Hals. »Und ich könnte mir vorstellen, dass in dieser Straße durchaus ein paar NichtIrdische wohnen, die aber genau wissen, dass sie sich besser um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, sobald Schattenjäger im Spiel sind.«
»Ihr seid ja nun mal eine Furcht einflößende Truppe, das is’ wohl wahr«, sagte Thomas so gleichmütig, dass Will den Verdacht hegte, er mache sich über ihn lustig. Er zeigte auf Wills Gesicht. »Sie werden morgen ein Riesen-Veilchen haben, wenn Sie sich nicht bald eine Iratze verpassen lassen«, fuhr er fort.
»Vielleicht will ich ja ein blaues Auge haben«, entgegnete Will missmutig. »Hast du daran schon mal gedacht?«
Doch Thomas grinste nur und schwang sich auf den Kutschbock, während Will sich weiterhin bemühte, getrocknetes Vampirblut von seinen Händen und Armen zu wischen. Diese Aufgabe nahm ihn derart in Beschlag, dass es ihm gelang, Gabriel Lightwood fast völlig zu ignorieren, der nun aus den Schatten heraustrat und zu Will herüberschlenderte, ein überhebliches Lächeln auf dem Gesicht.
»Gute Arbeit, da drinnen, Herondale, die Hütte einfach in Brand zu stecken«, bemerkte Gabriel. »Und wie gut, dass wir da waren, um hinter dir aufzuräumen — oder der ganze Plan wäre in Flammen aufgegangen, zusammen mit den Resten deines guten Rufs.«
»Willst du damit sagen, dass von meinem guten Ruf noch etwas übrig ist?«, fragte Will in gespieltem Entsetzen. »Dann muss ich wirklich etwas falsch gemacht haben. Oder vielmehr nicht genug falsch gemacht haben.« Rasch hämmerte er mit der Faust gegen die Kutschwand. »Thomas! Wir müssen umgehend zum nächsten Freudenhaus aufbrechen! Ich brauche Skandale und schlechte Gesellschaft!«
Thomas schnaubte und murmelte etwas, das wie »Quatsch!« klang, von Will aber geflissentlich überhört wurde.
Gabriels Miene verdüsterte sich. »Gibt es eigentlich irgendetwas auf der Welt, das für dich kein Witz ist?«
»Im Moment fällt mir wirklich nichts ein.«
»Weißt du, es hat einmal eine Zeit gegeben«, setzte Gabriel an, »da dachte ich, wir könnten Freunde werden, Will.«
»Und es hat einmal eine Zeit gegeben, da dachte ich, ich sei ein Frettchen«, erwiderte Will ungerührt,
»aber das hat sich im Nachhinein als Opiumwahn herausgestellt. Hast du von dieser Nebenwirkung gewusst? Mir war das nämlich neu.«
»Ich denke, du solltest dir einmal überlegen, ob Witze über Opium wirklich amüsant oder taktvoll sind, angesichts der ... der Situation deines Freundes Carstairs«, bemerkte Gabriel.
Will unterbrach seine Reinigungsbemühungen, hob arrogant eine Augenbraue und fragte in gleichgültigem Ton: »Du meinst seine Behinderung?«
Gabriel blinzelte verwirrt. »Was?«
»So hast du es doch genannt, vor ein paar Tagen im Institut. Seine ›Behinderung‹«, erwiderte Will spöttisch und warf den blutigen Lappen beiseite. »Und da wunderst du dich, wieso wir keine Freunde sind?«
»Ich frage mich lediglich, ob du vielleicht niemals genug bekommst«, erwiderte Gabriel mit gedämpfter Stimme.
»Genug wovon?«
»Genug von deinem eigenen Verhalten.«
Will verschränkte die Arme vor der Brust; seine Augen glitzerten gefährlich. »Ach, ich kann nie genug bekommen«, lächelte er. »Was zufälligerweise genau dasselbe ist, was deine Schwester zu mir sagte, als sie ...«
In dem Moment flog der Kutschschlag auf, eine Hand kam ruckartig zum Vorschein, packte Will von hinten am Hemdkragen und zerrte ihn ins Innere. Dann wurde die Tür mit einem Knall von innen zugeschlagen, Thomas schnappte sich die Zügel und einen Augenblick später schoss der Einspänner in die Nacht, sodass Gabriel ihnen nur wütend nachstarren konnte.
»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, fragte Jem, nachdem er Will auf die gegenüberliegende Sitzbank verfrachtet hatte. Seine silbernen Augen glänzten im schwachen Licht des Kutscheninneren, während er den Kopf schüttelte und die Hände auf dem Spazierstock zwischen seinen Knien ruhen ließ. Dieser Spazierstock mit dem Drachenkopfknauf hatte einst Jems Vater gehört und war von einem SchattenjägerWaffenschmied in Peking eigens für ihn angefertigt worden. »Gabriel Lightwood so zu reizen — warum tust du das? Was soll das bewirken?«
»Du hast doch gehört, was er gesagt hat ... über dich ...«
»Es kümmert mich nicht, was er über mich sagt. Schließlich ist es genau das, was alle anderen auch denken. Er hat es nur gewagt, es auszusprechen.« Jem beugte sich vor und legte sein Kinn auf seine Hände.
»Du weißt doch, dass ich deinen mangelnden Selbsterhaltungstrieb nicht auf immer und ewig ausgleichen kann. Irgendwann wirst du lernen müssen, ohne mich auszukommen.«
Wie üblich ignorierte Will diese Bemerkung. »Gabriel Lightwood stellt wohl kaum eine Bedrohung dar.«
»Dann vergiss Gabriel. Gibt es einen besonderen Grund, warum du immer wieder Vampire beißt?«
Will berührte das getrocknete Blut an seinem Handgelenk und lächelte. »Das erwarten sie nicht.«
»Natürlich erwarten sie das nicht. Denn sie wissen, was geschieht, wenn einer von uns Vampirblut zu sich nimmt. Vermutlich erwarten sie eher, dass du mehr Verstand besitzt, als sie zu beißen.«
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