Besorgt schaute sie auf Nathaniel hinunter. Er lag vollkommen reglos da, sein bleiches Gesicht mit Blutergüssen übersät, die verfilzten Haare gegen das Kopfkissen gedrückt. Mit einem Stich im Herzen erinnerte Tessa sich an ihren elegant gekleideten Bruder von früher, dessen Haare immer sorgfältig gepflegt und gekämmt gewesen waren und dessen Schuhwerk nie auch nur den kleinsten Fleck aufgewiesen hatte. Der Nathaniel, der nun vor ihr im Bett lag, sah nicht aus wie jemand, der seine kleine Schwester fröhlich tanzend im Wohnzimmer herumgewirbelt oder der vor lauter Lebensfreude leise vor sich hin gesummt hatte. Tessa beugte sich vor, um sein Gesicht eingehender zu untersuchen, als sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung bemerkte. Rasch drehte sie den Kopf, stellte aber fest, dass sie nur ihr eigenes Spiegelbild gesehen hatte, das vom Spiegel an der gegenüberliegenden Wand reflektiert wurde. In Camilles Kleid wirkte sie selbst in ihren eigenen Augen wie ein kleines Mädchen, das große Dame spielte — sie war viel zu schmächtig für diese äußerst elegante Robe. Sie sah aus wie ein Kind, ein albernes Kind. Kein Wunder, dass Will ...
»Tessie?« Nathaniels schwache, zittrige Stimme riss sie sofort aus ihren Gedanken. »Tessie, bitte lass mich nicht allein. Ich glaube ... ich bin krank.«
»Nate.« Tessa griff nach seiner Hand und nahm sie zwischen ihre behandschuhten Finger. »Du wirst wieder gesund. Es ist alles in Ordnung. Sie haben schon nach den Ärzten geschickt ...«
»Wer ist ›Sie‹?«, stieß er mit dünner, hoher Stimme hervor. »Wo sind wir hier? Ich kenne diesen Ort nicht.«
»Wir sind im Londoner Institut der Schattenjäger. Hier bist du in Sicherheit.«
Nathaniel blinzelte. Dunkle, fast schwarze Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab und seine Lippen waren aufgeplatzt und verkrustet, vermutlich mit getrocknetem Blut. Sein Blick sprang unruhig hin und her, ohne irgendwo länger als eine Sekunde zu verweilen. »Schattenjäger«, hauchte er matt, »ich hätte nicht gedacht, dass sie wirklich existieren ...« Plötzlich wisperte er leise: »Der Magister ...«, und Tessa zuckte nervös zusammen. »Der Magister hat gesagt, sie seien das Gesetz. Er sagte, man müsse sich vor ihnen in Acht nehmen. Aber in dieser Welt existieren keine Gesetze. Hier gibt es keine Strafe — nur töten und getötet werden«, flüsterte er und fuhr dann mit lauterer Stimme fort: »Tessie, es tut mir so leid ... einfach alles ...«
»Der Magister — meinst du damit de Quincey?«, hakte Tessa nach, aber im nächsten Moment gab Nate ein Röcheln von sich und starrte an ihr vorbei, die Augen vor Angst weit aufgerissen. Tessa ließ seine Hand los und drehte sich um, um nachzusehen, was ihn so erschreckt hatte.
Charlotte war fast geräuschlos eingetreten. Sie trug noch immer ihre Schattenjägermontur, hatte sich allerdings einen altmodischen, langen Umhang übergeworfen, der von einer doppelten Schnalle am Hals zusammengehalten wurde. Sie wirkte sehr klein - ein Eindruck, der dadurch verstärkt wurde, dass Bruder Enoch neben ihr stand und einen riesigen Schatten auf den Boden warf. Wie am Tag ihrer ersten Begegnung trug er wieder die pergamentfarbene Robe; allerdings hielt er nun einen schwarzen Stab in der Hand, dessen Knauf in Gestalt zweier dunkler Flügel geschnitzt war. Er hatte die Kapuze hochgeschlagen, sodass seine Gesichtszüge im Schatten lagen.
»Tessa, du erinnerst dich bestimmt an Bruder Enoch«, sagte Charlotte. »Er ist gekommen, um Nathaniel zu helfen.«
Im selben Moment stieß Nate einen fast animalischen Schrei aus und griff entsetzt nach Tessas Handgelenk. Sie sah ihn verwirrt an: »Was hast du, Nathaniel? Was ist los?«
»De Quincey hat mir von ihnen erzählt«, keuchte Nathaniel. »Die Gregori ... die Stillen Brüder. Es heißt, sie können einen Mann allein durch ihre Gedanken töten.« Er schauderte. »Tessa.« Seine Stimme war kaum noch ein Wispern. »Sieh dir doch nur sein Gesicht an.«
Und Tessa schaute Bruder Enoch ins Gesicht, der während ihres kurzen Wortwechsels mit ihrem Bruder die Kapuze geräuschlos nach hinten geschoben hatte. Leere, glatte Augenhöhlen reflektierten das Elbenlicht, das die schwarzen Nähte über den Lippen unbarmherzig zum Vorschein kommen ließ.
Bedächtig trat Charlotte einen Schritt vor. »Wenn Bruder Enoch nun Mr Gray untersuchen könnte ...«, setzte sie an.
»Nein!«, schrie Tessa sofort auf. Sie befreite ihre Hand aus Nates Umklammerung und postierte sich zwischen ihrem Bruder und dem Mann in der pergamentfarbenen Robe. »Rührt ihn ja nicht an.«
Bestürzt hielt Charlotte inne. »Aber die Brüder der Stille sind unsere besten Heilkundigen. Ohne Bruder Enochs Hilfe wird Nathaniel ...« Sie verstummte einen Moment und fuhr dann leise fort. »Nun ja, ansonsten können wir nicht viel für ihn tun.«
Miss Gray.
Tessa benötigte einen Augenblick, bis sie erkannte, dass ihr Name nicht laut ausgesprochen worden war, sondern wie der Fetzen eines halb vergessenen Liedes in ihrem Kopf widerhallte. Allerdings nicht in der Stimme ihrer eigenen Gedanken. Dies hier war eine andere, fremde, harsche Stimme — Bruder Enochs Stimme. Auf dieselbe Weise hatte er sich auch an ihrem ersten Tag im Institut an sie gewandt.
»Es ist wirklich interessant, Miss Gray«, fuhr Bruder Enoch fort, »dass Sie ein Schattenwesen sind, Ihr Bruder indes nicht. Wie konnte es dazu kommen?«
Abrupt hielt Tessa inne. »Das ... das können Sie nur durch einen Blick auf ihn erkennen?«, fragte sie ungläubig.
»Tessie!« Nathaniel drückte sich aus den Kissen hoch, sein blasses Gesicht zeigte fiebrige Flecken.
»Was tust du da? Sprichst du etwa mit dem Gregori? Er ist gefährlich!«
»Es ist schon gut, Nate«, erwiderte Tessa, ohne den Blick von Bruder Enoch abzuwenden. Sie wusste, dass sie eigentlich Furcht empfinden sollte, aber tatsächlich verspürte sie nur tiefe Enttäuschung. »Wollen Sie damit sagen, dass an Nate nichts Ungewöhnliches ist?«, fragte sie leise. »Keine übernatürlichen Kräfte?«
Nein, rein gar nichts, erklärte der Bruder der Stille. Bis zu diesem Moment war Tessa überhaupt nicht bewusst gewesen, wie sehr sie innerlich gehofft hatte, dass ihr Bruder so sei wie sie. Mit vor Enttäuschung angespannter Stimme fragte sie: »Da Sie ja so vieles wissen, darf ich dann davon ausgehen, dass Sie auch wissen, was ich bin? Bin ich eine Hexe?«
»Das vermag ich nicht zu sagen. Sie haben durchaus etwas an sich, das Sie als eines von Liliths Kindern kennzeichnet. Dennoch tragen Sie kein Dämonenmal.«
»Das ist mir auch schon aufgefallen«, pflichtete Charlotte ihm bei und Tessa erkannte, dass die Schattenjägerin Bruder Enochs Stimme ebenfalls hören konnte. »Ich dachte, dass sie vielleicht doch keine Hexe ist. Schließlich werden manche Menschen mit besonderen Fähigkeiten geboren, zum Beispiel dem zweiten Gesicht. Oder sie trägt womöglich Feenblut in sich ...«
»Sie ist kein Mensch — sie ist etwas anderes. Ich werde mich noch eingehend damit beschäftigen. Möglicherweise findet sich etwas in den Archiven, das mir weiterhelfen wird.« Obwohl er keine Augen besaß, schien Bruder Enoch Tessas Gesicht genau zu studieren. »Ich spüre, dass Sie eine ganz besondere Kraft haben. Eine Kraft, die kein anderes Hexenwesen besitzt.«
»Meine Fähigkeit zur Gestaltwandlung, meinen Sie sicher.«
»Nein. Die meine ich nicht.«
»Aber was denn dann?«, fragte Tessa verwundert.
»Welche Kraft könnte ich denn sonst ...« Sie verstummte abrupt, als Nathaniel ein Geräusch hervorstieß, und drehte sich zu ihm um: Er hatte sich aus den Decken befreit und versuchte aufzustehen; sein Gesicht war schweißüberströmt und kreidebleich. Ein heißes Schuldgefühl überkam Tessa: Sie hatte sich so sehr auf Bruder Enochs Worte konzentriert, dass sie ihren Bruder fast völlig vergessen hatte.
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