Ihr Bruder stöhnte, brachte aber keine Antwort hervor. Tessa biss sich auf die Lippe und machte sich daran, die Handschellen zu lösen, die seine Handgelenke an den Stuhl fesselten. Doch sie bestanden aus massivem Eisen und waren mit mehreren Schrauben im Holz verankert - und ganz offensichtlich so konzipiert, dass sie selbst Vampirkräften widerstehen konnten. Tessa zerrte daran, bis ihre Finger bluteten, doch die Schellen gaben nicht nach. Wenn sie doch nur eine von Wills Klingen gehabt hätte, überlegte sie fieberhaft.
Rasch schaute sie sich im Musiksalon um. Der Raum war noch immer von schwarzem Qualm erfüllt. Zwischen den dunklen Rauchschwaden blitzten immer wieder Waffen auf - die hell leuchtenden Schwerter der Schattenjäger, die Seraphklingen genannt wurden und mit dem Namen eines Engels zum Leben erweckt wurden, wie Tessa inzwischen wusste. Hellrotes Vampirblut spritzte von den Klingen, funkelnd wie Rubine. Zum ersten Mal erkannte Tessa — mit einer gewissen Überraschung, da die Vampire ihr zuerst Angst eingejagt hatten —, dass diese sich eindeutig in der Unterzahl befanden. Obwohl die Kinder der Nacht bösartig und blitzschnell zuschlugen, waren die Schattenjäger fast ebenso schnell und zudem hervorragend im Umgang mit Waffen ausgebildet. Ein Vampir nach dem anderen fiel den Hieben der Seraphschwerter zum Opfer. Ihr Blut rann in Strömen über den Boden und sickerte in die Perserteppiche, bis deren Ränder sich vollkommen vollgesogen hatten.
Als sich der Rauch in einem Bereich etwas lichtete, sah Tessa, wie Charlotte einen stämmigen Vampir in einem grauen Frack erledigte: Mit einer raschen Bewegung schlitzte sie ihm die Kehle auf, sodass das Blut bis an die Wand hinter ihm spritzte. Als er zischend auf die Knie sank, stieß Charlotte ihm die Klinge mit einem Ruck in die Brust.
Hinter Charlotte erkannte Tessa einen Wirbel aus rasend schnellen, wilden Bewegungen — Will, der von einem grimmigen Vampir mit einer Silberpistole verfolgt wurde. Der Vampir legte auf Will an, zielte und feuerte. Doch Will schlug einen Haken, schlitterte über den blutigen Boden, rollte sich ab und sprang auf einen der Polsterstühle. Dann wich er einem weiteren Schuss geschickt aus, sprang erneut und tänzelte zu Tessas Überraschung leichtfüßig über die Rückenlehnen einer Reihe von Stühlen. Beim letzten Stuhl angekommen, sprang er auf den Boden und wirbelte zu dem Vampir herum, der sich nun ein paar Meter von ihm entfernt befand. Plötzlich — und ohne dass Tessa gesehen hätte, wie er ihn zückte — blitzte ein kurzer Dolch in seiner Hand auf und flog einen Sekundenbruchteil später quer durch den Salon. Der Pistolenschütze versuchte noch, sich zu ducken, war aber nicht schnell genug: Der Dolch bohrte sich in seine Schulter, woraufhin der Vampir vor Schmerz aufbrüllte. In dem Moment, in dem er nach dem Heft greifen wollte, um den Dolch herauszuziehen, tauchte wie aus dem Nichts ein schlanker dunkler Schatten hinter ihm auf. Grelle Silberblitze durchzuckten die Rauchschwaden, dann explodierte der Vampir in einer Wolke aus Blut und Asche.
Als sich das Chaos etwas lichtete, erkannte Tessa Jem, eine lange Klinge in der Hand. Er grinste, allerdings nicht in ihre Richtung, und versetzte der Silberpistole, die nun verloren zwischen den Überresten des Vampirs lag, einen kräftigen Tritt, sodass sie über den Boden schlitterte und erst von Wills Fuß gestoppt wurde. Will nickte Jem ebenfalls grinsend zu, schnappte sich die Pistole und steckte sie unter seinen Gürtel.
»Will!«, rief Tessa in seine Richtung, obwohl sie nicht sicher war, ob er sie über dem Kampflärm überhaupt hören konnte. »Will ...«
Plötzlich packte sie jemand im Rücken ihres Kleides, stemmte sie hoch und riss sie nach hinten. Tessa hatte das Gefühl, sich in den Krallen eines riesigen Raubvogels zu befinden. Sie schrie auf und spürte dann, wie sie nach vorn geschleudert wurde, über den Boden rutschte und mit voller Wucht in einen Stapel Stühle krachte, der mit ohrenbetäubendem Getöse zusammenbrach. Vor Schmerz stöhnte Tessa laut auf und hob mühsam den Kopf.
Über ihr stand de Quincey. Seine schwarzen, blutunterlaufenen Augen glitzerten vor rasender Wut, sein weißes Haar hing ihm in matten Strähnen ins Gesicht und sein einst weißes Hemd war über der Brust aufgeschlitzt und klebte vor Blut. Er musste sich eine klaffende Schnittwunde zugezogen haben, die jedoch nicht so tief gewesen war, dass sie ihn getötet hätte, und die danach umgehend verheilt war. Die Haut unter dem zerfetzten Hemd wirkte jedenfalls vollkommen unversehrt. »Du Miststück«, knurrte er Tessa an.
»Du verlogenes, hinterhältiges Miststück! Du hast diesen jungen hierher gebracht, Camille. Diesen Nephilim.«
Panisch krabbelte Tessa rückwärts, bis der Haufen zusammengebrochener Stühle sie aufhielt.
»Ich habe dich wieder in unseren Clan aufgenommen, selbst nach deinem kleinen widerwärtigen ... Intermezzo ... mit diesem Lykanthropen. Ich habe deinen lächerlichen Hexenmeister toleriert. Und das ist nun der Dank dafür ... so dankst du mir. Dankst du uns.« Er streckte ihr seine Hände entgegen, die mit schwarzem Staub beschmiert waren. »Siehst du das hier?«, fragte er. »Das ist die Asche unserer toten Clanmitglieder. Toter Vampire. Die du verraten hast. Und für wen? Für die Nephilim.« Er spuckte den Begriff förmlich aus, als wäre er giftig.
Plötzlich perlte irgendetwas in Tessas Kehle. Helles Gelächter. Allerdings nicht ihr eigenes, sondern das von Camille. »›Widerwärtiges Intermezzo‹?« Die Worte sprudelten aus Tessas Mund hervor, ehe sie sie aufhalten konnte. Es schien, als hätte sie keinerlei Kontrolle mehr über das, was sie sagte. »Ich habe ihn geliebt — so, wie du mich nie geliebt hast, so, wie du nie auch nur irgendjemanden geliebt hast. Und dann hast du ihn getötet, nur um dem Clan zu zeigen, dass du es kannst. Ich will, dass du am eigenen Leib erfährst, wie es ist, alles zu verlieren, was einem etwas bedeutet. Ich will, dass dein Haus niederbrennt, dein Clan zu Asche zerfällt und das Ende deines eigenen erbärmlichen Lebens naht — und dass du weißt, dass ich diejenige bin, die dir dies antut.«
Und dann war Camilles Stimme genauso schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen war, und ließ Tessa ausgelaugt und bestürzt zurück. Was sie allerdings nicht daran hinderte, ihre Hände zu benutzen und hinter ihrem Rücken zwischen den zerborstenen Stühlen herumzutasten. Irgendetwas musste sich dort doch finden lassen — irgendein abgebrochenes Stück Holz, das sie als Waffe einsetzen konnte.
De Quincey starrte sie mit offenem Mund an. Er war wie vom Donner gerührt — offenbar hatte es bisher niemand gewagt, so mit ihm zu sprechen. Jedenfalls kein anderer Vampir. »Vielleicht ... vielleicht habe ich dich ja unterschätzt«, brachte er schließlich hervor. »Vielleicht wirst du mich ja tatsächlich vernichten ... Aber dann reiße ich dich mit mir in den Tod!«, fauchte er und stürzte sich mit ausgestreckten Händen auf sie.
Im selben Moment schlossen sich Tessas Finger um ein Stuhlbein. Ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken, schwang sie den Stuhl nach oben und ließ ihn krachend auf de Quinceys Rücken niedergehen. Als er vor Schmerz aufschrie und rückwärtstaumelte, spürte sie ein Gefühl des Triumphs, rappelte sich auf und zog ihm den Stuhl erneut über den Schädel. Dieses Mal erfasste ihn ein zerbrochenes Stück Armlehne im Gesicht und schlitzte ihm die gesamte Wange auf. De Quincey fletschte die Zähne, die lautlos aus ihren Scheiden hervorglitten, und dann sprang er — es gab keinen anderen Ausdruck dafür. Der Satz, den er machte, ähnelte dem geräuschlosen Sprung einer Katze und riss Tessa von den Füßen. De Quincey landete auf ihr, fegte ihr den Stuhl aus der Hand und schnappte mit gebleckten Fangzähnen nach ihrer Kehle. Verzweifelt schlug Tessa ihm mit einer krallenbewehrten Hand ins Gesicht. Sein Blut, das auf sie herabtropfte, schien wie Säure auf ihrer Haut zu brennen. Sie schrie und schlug noch heftiger nach ihm aus, doch er lachte nur. Seine Pupillen waren gänzlich in seiner schwarzen Iris verschwunden und er wirkte vollkommen unmenschlich, wie ein riesiges, räuberisches Reptil.
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