»Irgendwelche Fortschritte?«
»Nein.« Rothen schüttelte den Kopf. Er betrachtete die provisorischen Bauten auf der einen Straßenseite. »Ich hatte ja keine Ahnung, wie es hier aussieht.«
»Es ist wie in einem Harrel-Bau, nicht wahr?«, kicherte Dannyl. »Ein echtes Chaos.«
»Oh ja, aber ich meinte eigentlich die Menschen.« Rothen deutete auf eine kleine Gruppe von Männern und Frauen. »Die Lebensbedingungen sind so schlecht… Ich hätte das nie für möglich gehalten…«
Dannyl zuckte die Achseln. »Wir haben keine Chance, das Mädchen zu finden, Rothen. Wir sind einfach zu wenige.«
Rothen nickte. »Meinst du, den anderen ist es besser ergangen?«
»Wenn dem so wäre, hätte man sich bereits mit uns in Verbindung gesetzt.«
»Du hast Recht.« Rothen runzelte die Stirn. »Mir ist heute eine Frage in den Sinn gekommen, die wir uns noch gar nicht gestellt haben: Woher wissen wir, dass sie überhaupt noch in der Stadt ist? Sie hätte aufs Land fliehen können.« Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, du hast Recht. Ich mache hier jetzt Schluss. Lass uns in die Gilde zurückkehren.«
Frühes Morgenlicht überzog die frostüberhauchten Fenster mit Gold. Die Luft im Raum war herrlich warm, beheizt von einer leuchtenden Kugel, die hinter einer in die Wand eingelassenen Milchglasscheibe schwebte. Rothen gürtete die Schärpe seiner Robe, dann trat er in den Gästeraum, um seine Freunde zu begrüßen.
Eine zweite Scheibe ermöglichte es der Wärmekugel, gleichzeitig das Schlafzimmer und den Gästeraum zu beheizen. Ein älterer Magier stand vor dieser zweiten Scheibe und hielt die Hände über das Glas. Obwohl er weit über achtzig war, war Yaldin noch immer robust und mit einem scharfen Verstand gesegnet; dies war einer der Vorteile, die magische Fähigkeiten mit sich brachten: hohes Alter und gute Gesundheit. Ein größerer und jüngerer Magier stand neben Yaldin. Dannyl hatte die Augen halb geschlossen, und er machte den Eindruck, als könne er jeden Moment einschlafen.
»Guten Morgen«, sagte Rothen. »Sieht so aus, als würde das Wetter heute aufklaren.«
Yaldin lächelte schief. »Lord Davin meint, wir würden noch ein paar warme Tage haben, bevor der Winter kommt.«
Dannyl zog die Brauen zusammen. »Das sagt Davin schon seit Wochen.«
»Er hat nicht gesagt, wann es passieren würde«, bemerkte Yaldin mit einem vergnügten Kichern. »Er hat nur gesagt, dass es passieren würde.«
Rothen lächelte. Es gab ein altes Sprichwort in Kyralia: »Die Sonne trachtet nicht danach, Königen zu gefallen, ja nicht einmal Magiern.« Lord Davin, ein exzentrischer Alchemist, hatte vor drei Jahren mit Wetterstudien begonnen, fest entschlossen, das Gegenteil zu beweisen. In letzter Zeit hatte er die Gilde mit »Voraussagen« versorgt. Rothen vermutete allerdings, dass seine Erfolgsrate eher auf Zufall als auf Genie schließen ließ.
Die Haupttür des Raums wurde geöffnet, und Rothens Dienerin, Tania, trat ein. Sie brachte ein Tablett zum Tisch und stellte es ab. Auf dem Tablett standen mehrere kleine, mit Gold verzierte Tassen und ein Teller, auf dem sich süße, kunstvoll verzierte Kuchen türmten.
»Sumi, die Herren?«, fragte sie.
Dannyl und Yaldin nickten begeistert. Nachdem Rothen die beiden aufgefordert hatte, Platz zu nehmen, maß Tania einige Löffel getrockneter Blätter ab, gab sie in eine goldene Kanne und goss heißes Wasser darüber.
Yaldin seufzte und schüttelte den Kopf. »Um ehrlich zu sein, ich weiß nicht, warum ich mich freiwillig erboten habe, heute in die Hüttensiedlung zu gehen. Ich hätte es auch nicht getan, wenn Ezrille nicht darauf bestanden hätte. Ich habe zu ihr gesagt: ›Wenn nur die Hälfte von uns hingeht, welche Chancen haben wir dann?‹ Sie hat geantwortet: ›Jedenfalls bessere, als wenn keiner von euch geht.‹«
Rothen lächelte. »Eure Gattin ist sehr vernünftig.«
»Ich hätte gedacht, dass unsere Kollegen stärker daran interessiert wären, bei der Suche zu helfen. Vor allem, nachdem die Ratgeber des Königs erklärt haben, dass er eine Ausbildung für das Mädchen wünscht, sollte sie keine wilde Magierin sein«, warf Dannyl ein.
Yaldin schnitt eine Grimasse. »Ich nehme an, einige unserer Freunde haben aus Protest gegen diese Entscheidung ihre Unterstützung zurückgezogen. Sie wollen kein Mädchen aus den Hütten in der Gilde.«
»Nun, jetzt haben sie keine andere Wahl mehr. Und wir haben einen neuen Helfer hinzugewonnen«, rief Rothen ihm ins Gedächtnis, während er von Tania eine Tasse entgegennahm.
»Fergun.« Dannyl stieß einen Laut aus, der äußerst unhöflich war. »Das Mädchen hätte wirklich fester werfen sollen.«
»Dannyl!« Rothen drohte dem jüngeren Magier mit dem Finger. »Fergun ist der einzige Grund, warum die Gilde überhaupt noch nach ihr sucht. Bei der Versammlung gestern Abend war er sehr überzeugend.«
Yaldin lächelte grimmig. »Ich bezweifle, dass seine Begeisterung lange anhalten wird. Als ich gestern endlich nach Hause kam, bin ich geradewegs ins Badehaus gegangen, aber Ezrille meinte, selbst dadurch sei ich den Gestank des Hüttenviertels nicht losgeworden.«
»Ich hoffe, unsere flüchtige kleine Magierin wird nicht gar so schrecklich stinken«, sagte Dannyl und zeigte Rothen ein schiefes Grinsen. »Sonst wird ihre erste Lektion wohl darin bestehen, dass man ihr beibringt, wie man sich wäscht.«
Als Rothen an das halb verhungerte, schmutzige Gesicht und die vor Staunen geweiteten Augen des Mädchens dachte, überlief ihn ein Schauer. Die ganze Nacht hatte er von den Hüttensiedlungen geträumt. Er war durch Hütten mit dünnen Wänden gestrichen, hatte kränkelnde Menschen beobachtet, alte Männer, die in ihren Lumpen zitterten, magere Kinder, die halb verfaultes Essen zu sich nahmen, grausam entstellte Krüppel …
Ein höfliches Klopfen unterbrach seine Gedanken. Er wandte sich der Tür zu und gab ihr einen Gedankenbefehl. Die Tür schwang auf, und ein junger Mann in der Gewandung eines Boten trat ein.
»Lord Dannyl.« Der Bote verneigte sich tief vor dem jüngeren Magier.
»Sprich«, befahl Dannyl.
»Hauptmann Garrin schickt Euch eine Nachricht, Herr. Ich soll Euch ausrichten, die Wachen Ollin und Keran seien ausgeraubt und schwer verprügelt worden. Der Mann, nach dem Ihr sie habt suchen lassen, wünsche nicht, mit Magiern zu sprechen.«
Dannyl starrte den Diener an, dann runzelte er die Stirn, als er die Neuigkeiten überdachte. Als die Stille sich in die Länge zog, begann der junge Mann beklommen von einem Fuß auf den anderen zu treten.
»Sind sie schlimm verletzt?«, fragte Rothen.
Der Bote schüttelte den Kopf. »Ein paar Prellungen, Herr. Keine gebrochenen Knochen.«
Dannyl machte eine abschätzige Handbewegung. »Dankt dem Hauptmann für seine Nachricht. Und jetzt darfst du gehen.«
Der Bote verneigte sich abermals und verließ den Raum.
»Was hatte das zu bedeuten?«, fragte Yaldin, als die Tür sich schloss.
Dannyl schürzte die Lippen. »Wie es aussieht, sind uns die Diebe nicht allzu wohl gesinnt.«
Yaldin stieß ein leises Schnauben aus und griff nach einem Stück Kuchen. »Das möchte ich meinen! Warum sollten sie…?« Der ältere Magier brach ab und musterte den jüngeren mit schmalen Augen. »Ihr habt doch nicht etwa…?«
Dannyl breitete die Hände aus. »Einen Versuch war es wert. Angeblich wissen sie über alles Bescheid, was sich im Hüttenviertel ereignet.«
»Ihr habt versucht, Kontakt zu den Dieben aufzunehmen!«
»Soweit ich weiß, habe ich damit kein Gesetz gebrochen.«
Yaldin stöhnte und schüttelte den Kopf.
»Nein, Dannyl«, sagte Rothen, »aber der König und die Häuser werden es gewiss nicht billigen, wenn die Gilde mit den Dieben Geschäfte macht.«
Читать дальше