»Guten Morgen, Gellin«, rief Cery.
Der Mann musterte Sonea mit schmalen, kurzsichtigen Augen, dann grinste er.
»Ha! Wenn das nicht die kleine Sonea ist!« Gellin kam gemächlich auf sie zu und schlug ihr auf die Schulter. »Und erwachsen bist du geworden. Ich erinnere mich noch gut daran, wie du mir früher das Bol stibitzt hast, Mädchen. Eine geschickte kleine Diebin warst du, jawohl.«
Sonea warf Cery einen verschmitzten Blick zu. »Und das war natürlich ganz allein meine Idee, nicht wahr, Cery?«
Cery breitete die Hände aus und lächelte unschuldig. »Wie meinst du das, Sonea?«
Gellin kicherte. »Das kommt davon, wenn man sich mit den Dieben gemein macht. Aber sag mir, wie geht es deinen Eltern?«
»Du meinst Tante Jonna und Onkel Ranel?«
Er hob die Hand. »Die meine ich.«
Sonea zuckte die Achseln und erzählte von der Vertreibung ihrer Familie aus dem Bleibehaus. Gellin nickte mitfühlend.
»Die beiden fragen sich sicher schon, wo ich abgeblieben bin«, fügte sie hinzu. »Ich –«
Die Tür des Gasthauses wurde krachend aufgestoßen, und Sonea zuckte zusammen. Sofort herrschte Ruhe im Schankraum, und alle blickten zum Eingang hinüber. Im Türrahmen lehnte Harrin, atemlos und mit Schweiß auf der Stirn.
»Pass bloß mit meiner Tür auf!«, brüllte Gellin.
Harrin blickte auf. Als er Sonea und Cery entdeckte, wurde er bleich und lief auf sie zu. Im nächsten Moment hatte er Sonea auch schon am Arm gepackt und zog sie, Cery dicht hinter ihnen, in die Küche des Gasthauses.
»Was ist passiert?«, flüsterte Cery.
»Die Magier durchsuchen die Vorstadt«, keuchte Harrin.
Sonea starrte ihn entsetzt an.
»Sie sind hier?« , rief Cery. »Warum?«
Harrin warf Sonea einen bedeutungsvollen Blick zu.
»Sie suchen nach mir«, wisperte sie.
Harrin nickte grimmig, dann wandte er sich an Cery. »Wohin sollen wir gehen?«
»Wie nah sind sie?«
»Sehr nah. Sie haben ihre Suche an der Äußeren Mauer begonnen und arbeiten sich von dort aus vor.«
Cery stieß einen leisen Pfiff aus. » So nah.«
Sonea presste sich eine Hand auf die Brust. Ihr Herz hämmerte viel zu schnell, und ihr war mit einem Mal übel.
»Wir haben nur ein paar Minuten Zeit«, erklärte Harrin. »Wir müssen sofort von hier verschwinden. Sie durchsuchen jedes Haus.«
»Dann müssen wir sie irgendwo unterbringen, wo sie schon gewesen sind.«
Sonea lehnte sich an die Wand, und die Knie drohten unter ihr nachzugeben, als die Erinnerung an einen geschwärzten Leichnam vor ihren Augen aufstieg.
»Sie werden mich töten!«, stieß sie hervor.
Cery sah sie an. »Nein, Sonea«, erklärte er entschieden.
»Sie haben diesen Jungen getötet…« Sie schauderte.
Er packte sie an den Schultern. »Das werden wir nicht zulassen, Sonea.«
Sein Blick war viel härter, als sie es von ihm gewohnt war. Sie forschte in seinen Augen nach Zweifeln, konnte aber keine entdecken.
»Vertraust du mir?«, fragte er.
Sie nickte, und er lächelte ihr aufmunternd zu.
»Dann komm.«
Er zog sie hinter sich her durch die Küche, und Harrin folgte ihnen. Sie kamen durch eine weitere Tür und traten schließlich auf eine durchweichte Gasse hinaus. Sonea schauderte, als die kalte Winterluft durch ihre Kleider drang.
Am Ende der Gasse angekommen, erklärte Cery ihnen, dass sie warten sollten, während er herausfinden wollte, ob die Luft rein war. Er blieb nur einen Moment lang am Eingang stehen, dann kam er kopfschüttelnd zurück. Und schon rannten sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Etwa in der Mitte des Hausblocks hielt Cery inne und hob ein kleines, in eine Mauer eingelassenes Gitter hoch. Harrin warf seinem Freund einen zweifelnden Blick zu, dann legte er sich auf den Boden und schob sich durch die Öffnung. Sonea folgte ihm, und fand sich kurz darauf in einem dunklen Gang wieder. Während Harrin ihr auf die Füße half, zwängte auch Cery sich durch das Loch in der Mauer. Dann schloss er das Gitter hinter sich, eine Prozedur, die ohne jedes Geräusch verlief, was darauf hindeutete, dass die Scharniere regelmäßig geölt wurden.
»Bist du dir wirklich sicher?«, flüsterte Harrin.
»Die Diebe werden alle Hände voll zu tun haben, um zu verhindern, dass die Magier ihre Sachen finden. Sie haben gar keine Zeit, sich um uns Gedanken zu machen«, antwortete Cery. »Außerdem werden wir nicht lange hier unten sein. Leg mir eine Hand auf die Schulter und folge mir, Sonea.«
Sie gehorchte und hielt sich an seinem Mantel fest. Harrin legte ihr seinerseits eine Hand fest auf die Schulter. Mit hämmerndem Herzen starrte Sonea in die Dunkelheit, die vor ihnen lag.
Harrins Frage entnahm sie, dass sie auf der »Straße der Diebe« waren.
Es war verboten, das unterirdische Tunnelnetz zu benutzen, ohne vorher die Erlaubnis einzuholen, und Sonea hatte schreckliche Geschichten darüber gehört, wie die Diebe jene bestraften, die gegen dieses Gesetz verstießen.
Seit sie denken konnte, hatten die Menschen Cery scherzhaft einen Freund der Diebe genannt. In ihren Neckereien hatte stets ein Anflug von Furcht und Respekt mitgeschwungen. Sein Vater war Schmuggler gewesen, das wusste Sonea, daher war es durchaus möglich, dass Cery seine Privilegien und Beziehungen geerbt hatte. Bisher hatte sie jedoch nie einen Beweis dafür gesehen, und sie hatte immer vermutet, dass er die Spekulationen in Gang hielt, um seinen angesehenen Platz als Harrins Stellvertreter in der Bande zu behaupten. Soweit sie wusste, hatte Cery keinerlei Verbindung zu den Dieben, was bedeutete, dass sie ihrem Tod entgegenlief.
Allerdings war es besser, eine Begegnung mit den Dieben zu riskieren, als oberhalb der Erde dem sicheren Tod ausgeliefert zu sein. Zumindest suchten die Diebe nicht nach ihr.
Der Weg wurde noch dunkler, bis Sonea nichts mehr sehen konnte als verschiedene Nuancen von Schwärze. Dann wurde es nach und nach wieder heller, als sie sich einem weiteren Gitter näherten. Cery bog um eine Ecke, und wieder hüllte sie absolute Finsternis ein. Sie wechselten noch mehrmals die Richtung, bevor Cery stehen blieb.
»Hier sollten sie längst vorbei sein«, flüsterte Cery Harrin zu. »Wir werden lange genug bleiben, um etwas zu kaufen, und dann weitergehen. Du solltest die anderen holen und dich davon überzeugen, dass niemand etwas über Sonea gesagt hat. Irgendjemand könnte auf den Gedanken kommen, uns mit der Drohung zu erpressen, uns an die Magier zu verraten.«
»Ich trommle unsere Freunde zusammen«, versicherte Harrin ihm. »Und wenn ich sie gefunden habe, werde ich ihnen sagen, dass sie den Mund halten sollen.«
»Gut«, erwiderte Cery. »Also, wir sind hier, um ein wenig Iker-Pulver zu kaufen, das ist alles.«
Leise Geräusche hallten in der Dunkelheit wider, dann wurde eine Tür geöffnet, und sie traten in helles Tageslicht hinaus – und in einen Käfig voller Rassooks.
Beim Anblick der Eindringlinge begannen die Vögel mit ihren winzigen, nutzlosen Flügeln zu schlagen und brachen in laute, kreischende Rufe aus. Der Lärm wurde von den vier Mauern des kleinen Innenhofs noch verstärkt. In einer Tür in der Nähe erschien eine Frau. Als sie Sonea und Harrin in ihrem Käfig sah, verdüsterte sich ihre Miene.
»Hai! Wer seid ihr?«
Sonea drehte sich zu Cery um, der hinter ihr hockte und mit der Hand über den staubigen Boden strich. Jetzt erhob er sich und grinste die Frau an. »Wir wollten dich besuchen, Laria«, sagte er.
Die Frau sah ihn von oben herab an. Ihre finstere Miene verschwand, und ein runzliges Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus. »Ceryni! Ich freue mich immer, dich zu sehen. Sind das Freunde von dir? Willkommen! Willkommen! Kommt in mein Haus und trinkt einen Becher Raka.«
»Wie laufen die Geschäfte?«, fragte Cery, als sie aus dem Käfig traten und Laria durch die Tür in einen winzigen Raum folgten. Die eine Hälfte des Zimmers wurde von einem schmalen Bett eingenommen, und ein Herd und ein Tisch beanspruchten den anderen Teil. Sie legte die Stirn in Falten. »Viel zu tun heute. Vor weniger als einer Stunde hatte ich ein paar Besucher hier. Ziemlich neugierige Bande.«
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