Unmittelbar an der Tür saß Fedora, den Kopf in die Hand gestützt und hohlwangig. Alles und jeder war ihr gleichgültig. Sie quälte nur eine einzige Frage: Wie konnte Klawdi Starsh, der Großinquisitor von Wyshna, wie nur konnte er, der Mann ihrer Träume, mit dieser jungen Hexe ins Bett steigen?!
Während sich Klawdi den ganzen Schwall der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen anhörte, sah er sich jeder Möglichkeit beraubt, Fedora zu erklären, dass er nicht mit der Hexe geschlafen hatte. Er konnte ihr nicht einmal sagen, dass er seit sehr langer Zeit mit keiner Frau mehr geschlafen hatte, eine Enthaltsamkeit, die zwar für die Gesundheit mit Sicherheit schädlich war, dafür aber für die Seele angeblich höchst vorteilhaft sein sollte. Denn er, Klawdi, liebte schon seit langer Zeit niemanden mehr. Sein ganzes Leben lang, sozusagen. Es war eine andauernde, lange und hoffnungslose Enthaltsamkeit.
Fedora vernahm seine Gedanken jedoch nicht. Verhärmt starrte sie auf den Tisch. Schließlich beruhigte sich Klawdi und hakte sie innerlich ab. War es letztlich nicht einerlei, was sie von ihm dachte? Sollte sie ruhig annehmen, er sei mit einer Jüngeren ins Bett gegangen. Das würde es ihr leichter machen. Dann konnte sie das alles besser für sich verarbeiten.
Augenscheinlich bereiteten die versammelten Kuratoren seine Absetzung vor. Die Rollen für dieses Szenario waren schon vorab verteilt worden. Sicher, sie fürchteten einen Krieg gegen die Hexen, drohten diesen doch die Menschen zu verlieren; das hinderte sie jedoch nicht daran, die Stühle neu zu besetzen. Zur Zeit erhob der fette Foma aus Altyza Anspruch auf den Posten des Großinquisitors — besser als alle anderen glaubte er zu wissen, was zu tun war, sobald er erst einmal die noch von seinem Vorgänger gewärmten Zügel der Regierung in Händen hielte.
Klawdi drehte den Kopf ein wenig und schaute zum Fenster hinaus. Auf den Rauch, der durch die Stadt waberte. Wenn sie sie vor der Initiation gefangen nehmen, sinnierte er, besteht noch Hoffnung, sie in den Gefängnissen zu finden. Wenn sie das Ritual jedoch schon durchlaufen hat …
Klawdi erschauderte. Unter großer Anstrengung setzte er sich wieder die Maske des Gleichmuts auf. Alle aktiven Hexen wurden inzwischen schon bei der Verhaftung getötet. Ohne Prozess. Die ersten Körper hatten bereits gebrannt. Und er, Klawdi, saß hier und hörte sich diesen Schwall schlecht bemäntelter Beleidigungen an, während an der rothaarigen Ywha womöglich schon ihre Strafe vollstreckt wurde …
Wie immer, sagte das schwarze Flachrelief auf Djunkas Grabstein, dieses Abbild einer Frau, das sonst wen darstellen konnte: Djunka, Ywha, ja, selbst seine lang verstorbene Mutter. Wie auch immer, egal, denn du nimmst die Menschen an deiner Seite nicht wahr. Du wackelst mit den Ohren, während das Ziel deines Lebens hundserbärmlich um dich herumwuselt und versucht, in dein Blickfeld zu geraten. Immer hast du zu viel zu tun. Mal die Prüfungen in der Schule, mal die neuerliche Ankunft der Mutterhexe … Und wenn es zu spät ist, heulst und jammerst du! Als ob das etwas ändern würde! Immer wirst du dann erst etwas bemerken, wenn es nicht mehr da ist.
Er ließ die krampfhaft geballte Faust auf den Tisch niederkrachen. Der Redner, Foma aus Altyza, schien von der ungehaltenen Geste peinlich berührt. Dieser Dummkopf hielt das für eine Reaktion des Großinquisitors auf eine weitere Anschuldigung! Lächelnd bat Klawdi um Entschuldigung. Ach, mein guter Foma, wenn doch wirklich alles so einfach wäre! Aber wenn du wüsstest, worum es hier wirklich geht …
Was war er nur für ein Narr. Da hatte er einen Schatz gefunden, ihn lange mit sich herumgetragen, zwischen Münzen und Glasperlen versteckt — und am Ende verloren. Aus einem Loch in seiner Tasche war er ihm gefallen, und egal, wie sehr er ihn jetzt suchte, egal, ob er sich in den Hintern biss, er fand ihn nicht wieder.
Wer von den hier Anwesenden wohl von seiner letzten Anordnung wusste? Alle Einsatzkommandos, alle Fahnder und Patrouillen hatten den Befehl erhalten, die festgenommenen rothaarigen Hexen dem Großinquisitor persönlich zu übergeben. Begründung: Die Mutterhexe musste rothaarig sein.
Wie er sich über diesen Schachzug gefreut hatte. Niemand hatte auch nur Verdacht geschöpft. Jetzt schien ihm das Ganze allerdings naiv und sinnlos. Wer würde schon mitten in einem grausamen Krieg eine aktive Hexe in den Inquisitionspalast bringen? Die tötete man besser auf der Stelle. Vor allem, falls es sich um die Mutterhexe handelte. Warum sollte man die noch irgendwo hinschleppen? Die musste man ausschalten, sobald man sie schnappte.
Heute Morgen hatte man eine Hexe gebracht, deren Hände mit Holzblöcken gefesselt waren. Ihre Haare waren gefärbt, rosa und purpurrot. Obwohl ihr Brunnen vergessenswert war, stach sie durch eine kolossale Bösartigkeit hervor. Als dann die Strafe an ihr vollstreckt worden war, hatte sie den Tod aller prophezeit, das Ende der Welt und die Alleinherrschaft der Mutterhexe.
Erst jetzt bemerkte Klawdi die Stille, die im Raum hing. Und zwar schon seit ein paar Minuten. Außerdem ruhten alle Blicke auf ihm. Triumphierende Blicke. Verwirrte. Mitleidige. Fragende Blicke. Anklagende. Nur Wikol aus Bernst sah ihn gelangweilt an.
Was erwarteten sie von ihm? Ach ja, sicher, seinen Rücktritt. Ihrem Szenario zufolge musste er sich jetzt erheben und mit tonloser Stimme die Floskel herunterleiern, mit der er seinen Abschied erklärte. Er musste sein Unvermögen, die Aufgaben des Großinquisitors zukünftig zu erfüllen, eingestehen und als Gründe … Ach was, die Gründe spielten keine Rolle. Da konnte er ruhig das allgemeine Chaos und eine entflohene rothaarige Hexe anführen.
Er erhob sich.
Zum ersten Mal sah ihm auch Fedora in die Augen. Traurig und tadelnd. Wie konntest du nur? Nein, noch viel pathetischer, mit einem provozierenden Unterton: Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?!
»Meine Herrschaften! Ich habe mir Ihre Berichte aufmerksam angehört.«
Ein Flüstern ging durch den Raum. Wenn er die Rücktrittsforderungen als »Berichte« bezeichnete, musste er entweder sturzbetrunken sein — oder ein Ass im Ärmel haben.
»Sämtliche mit der Ankunft der Mutterhexe verbundenen Ereignisse haben letztlich genau diesen Verlauf zu nehmen. Noch kürzlich verständigte ich mich eben darüber mit Seiner Durchlaucht, dem Herzog.«
Die Kuratoren flüsterten abermals miteinander, wechselten hinter dem Rücken eines Dritten Blicke. Was redete Starsh da? Als ob nicht alle wüssten, dass ihn der Herzog nicht ausstehen konnte!
»Seine Durchlaucht hat den von mir vorgestellten Handlungsplan uneingeschränkt gebilligt. Weshalb auch dieses erstaunliche Stück Papier unterzeichnet wurde.«
Mit der Geste eines Zauberers zog er ein Blatt hervor. Eine Kopie. Das Original lag längst sicher im Safe. Womöglich ließe es sich einer der temperamentvollen Herren Kuratoren sonst noch einfallen, ihm eine bühnenreife Szene zu machen und dabei das kostbare Papier zu zerreißen.
»Mit Ihrer Erlaubnis werde ich es jetzt vorlesen. ›Wir, der Herzog der Stadt, Stefanij VII., billigen den Generalplan, wie er Uns vom Herrn Großinquisitor der Stadt Wyshna — Klawdi aus dem Hause Starsh — vorgelegt worden ist, ohne jeden Vorbehalt. Mit eigenhändiger Unterschrift bekräftigen Wir ferner einen Vertrag zur Neubesetzung bestimmter Stellen innerhalb der Inquisition, genauer zur Entbindung des Großinquisitors von seinen Pflichten, sobald dieser die von den Hexen ausgehende Aggression erfolgreich unterbunden hat.‹ Es folgen die Unterschriften. Stefanij VII., Klawdi Starsh. Und das Staatssiegel.«
Er verstummte. Und er sah nicht auf, sondern gab seinen Zuhörern die Gelegenheit, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Er verzichtete auf das Recht der Sieger, sich an ihrer Erschütterung zu weiden. An ihrer Verwirrung, ihrer hilflosen Empörung, ihrer Schwäche und Angst.
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