Henry sagte, nun wieder leise: »Obwohl ich kein Schwarzer Witwer bin -«
»Das stimmt nicht«, sagte Rubin. »Sie wissen, daß Sie einer sind. Tatsächlich sind Sie der einzige, der noch keine Zusammenkunft versäumt hat.«
»Dann darf ich auf etwas hinweisen, meine Herren: Wenn Mr. Sand Ihre Entscheidungen, wie immer sie lauten mögen, seinem Onkel mitteilt, wird er die Ergebnisse dieser Zusammenkunft aus den Wänden dieses Raumes hinaustragen.«
Es entstand eine unbehagliche Stille. Halsted sagte: »Um das Leben eines Unschuldigen vor dem Ruin zu retten, ist es doch sicher... «
Henry schüttelte den Kopf. »Aber das würde Verdacht auf einen oder mehrere Menschen fallen lassen, die auch unschuldig sein könnten.«
Avalon sagte: »Damit hat Henry nicht unrecht. Das scheint unseren Plan zu vereiteln.«
»Es sei denn«, sagte Henry, »wir gelangen zu einer endgültigen Schlußfolgerung, welche den Klub zufriedenstellt und die Außenwelt nicht einbezieht.«
»Was haben Sie im Sinn, Henry?« fragte Trumbull.
»Wenn ich es erklären darf... Es interessierte mich, einen Mann kennenzulernen, von dem Mr. Gonzalo vor dem Essen erzählte, er sage nie eine Lüge.«
»Aber hören Sie, Henry«, sagte Rubin, »Sie sind doch selbst pathologisch ehrlich. Sie wissen es. Das wurde festgestellt.«
»Das mag schon sein«, sagte Henry, »aber mitunter lüge ich doch.«
»Zweifeln Sie an Mr. Sand? Glauben Sie, daß er lügt?« fragte Rubin.
»Ich versichere Ihnen...«, begann Sand fast besorgt.
»Nein«, sagte Henry, »ich glaube, jedes Wort, das Mr. Sand sagte, ist wahr. Das Geld oder die Obligationen hat er nicht genommen. Dennoch ist logisch er es, auf dem der Verdacht vielleicht liegen bleibt. Seine Karriere könnte zugrunde gerichtet werden. Andererseits brauchte das nicht der Fall zu sein, wenn annehmbare Eventualitäten gefunden werden könnten, auch wenn das nicht wirklich zu einer Lösung führt. Und da er selbst keine annehmbare Eventualität zu finden vermag, sucht er eine bei uns. Ich bin überzeugt, daß all dies wahr ist.«
Sand nickte. »Nun schön, danke.«
»Aber was ist denn Wahrheit?« sagte Henry. »Ich glaube zum Beispiel, Mr. Trumbull, daß Ihre Gewohnheit, immer zu spät zu kommen mit dem Ruf >Scotch und Soda für einen Sterbendem, ungesittet und unnötig und, noch schlimmer, langweilig geworden ist. Ich hege den Verdacht, daß auch andere Anwesende dieser Ansicht sind.«
Trumbull errötete, aber Henry fuhr unbeirrt fort. »Wenn ich jedoch, unter normalen Umständen, gefragt würde, ob ich das mißbillige, würde ich es verneinen. Genau genommen, wäre das eine Lüge, aber ich schätze Sie aus anderen Gründen, Mr. Trumbull, welche bei weitem ausschlaggebender sind als diese Ihre Eigenheit, so daß die strikte Wahrheit, mit der ich eine Mißbilligung Ihrer Person ausdrücken würde, letzten Endes eine große Lüge wäre. Ich lüge also, um die Wahrheit - meine Sympathie für Sie - auszudrücken.«
Trumbull brummte: »Ich bin nicht sicher, daß mir Ihre Art von Sympathie zusagt.«
»Nach Mr. Sands Ansicht«, meinte Henry, »werden alle Lügen in Selbstschutz oder aus gesellschaftlicher Konvention ausgesprochen. Wir können aber Selbstschutz und gesellschaftliche Konvention nicht immer ignorieren. Wenn wir nicht lügen können, müssen wir die Wahrheit für uns lügen lassen.«
»Das ist unverständlich, Henry«, sagte Gonzalo.
»Ich glaube nicht, Mr. Gonzalo. Nur wenige Menschen horchen genau auf die Worte, und so manche wörtliche Wahrheit ist in ihrer eigentlichen Bedeutung eine Lüge. Wer sollte das besser wissen als einer, der stets die wörtliche Wahrheit spricht?«
Sands bleiche Wangen wurden weniger bleich, oder sein roter Schlips reflektierte besser das Licht nach oben. »Worauf zum Teufel wollen Sie hinaus?« fragte er.
»Ich möchte Sie etwas fragen, Mr. Sand. Wenn die Klubmitglieder einverstanden sind, natürlich.«
»Es ist mir gleichgültig, ob sie das sind oder nicht«, sagte Sand mit einem finsteren Blick auf Henry. »Wenn Sie einen solchen Ton anschlagen, werde ich vielleicht nicht antworten.«
»Das brauchen Sie vielleicht gar nicht«, sagte Henry. »Es geht darum, daß Sie jedesmal, wenn Sie das Verbrechen bestreiten, es mit genau den gleichen Worten tun. Es mußte mir auffallen, denn ich war entschlossen, genau auf Ihre Worte zu achten, seit ich hörte, daß Sie nie lügen. Sie sagten jedesmal >Das Bargeld oder die Obligationen habe ich nicht genommene
»Und das ist völlig wahr«, sagte Sand laut.
»Dessen bin ich sicher, denn sonst hätten Sie es nicht gesagt«, antwortete Henry. »Hier ist also die Frage, die ich Ihnen stellen möchte: Haben Sie vielleicht das Bargeld und die Obligationen genommen?«
Darauf folgte eine kurze Stille. Dann erhob sich Sand und sagte: »Ich werde nun meinen Mantel nehmen. Guten Abend. Ich erinnere Sie alle daran, daß nichts von dem, was hier vorgeht, draußen wiederholt werden darf.«
Als Sand fort war, sagte Trumbull: »Da holt mich aber der Teufel!«
Worauf Henry antwortete: »Vielleicht nicht, Mr. Trumbull. Man darf nie verzweifeln.«
Anmerkung
Die Geschichte erschien zum erstenmal im EQMM unter dem Titel >Der Mann, der niemals log<. Ich halte den Magazintitel für uninteressant, deshalb kehrte ich hier zu dem ursprünglichen zurück.
Ich schrieb die Geschichte am 14. Februar 1972. An das Datum erinnere ich mich nicht, weil ich ein großartiges Gedächtnis habe, sondern weil sie im Hospital am Tag vor meiner (bisher) einzigen Operation geschrieben wurde. An dem Tag besuchte mich mein Lektor von Doubleday, und ich gab ihm das Manuskript mit der Bitte, es mit einem Boten an EQMM zu schicken.
Das tat Larry natürlich, und als ich nach der Operation noch im Hospital lag, erfuhr ich, daß die Kurzgeschichte angenommen worden war. Seither fragte ich mich (wenn ich nichts Besseres zu tun hatte), ob sie aus Sympathie für mich armen Leidenden angenommen wurde, aber es scheint nicht der Fall zu sein. Sie wurde für eine Sammlung der besten Krimigeschichten des Jahres ausgewählt, daher nehme ich doch an, sie ist gut.
Ach, und die Erklärung, weshalb es die kürzeste Geschichte des Buchs ist: Ich mußte sie fertigstellen, bevor der Chirurg sein Skalpell aus den Zähnen nahm, es an seinem Oberschenkel wetzte und an die Arbeit ging.
»Meine Frau hat schon wieder einen Stier gekauft!« sagte Emmanuel Rubin, wobei sein spärlicher Kinnbart vor Empörung zitterte.
Gespräche über Frauen und insbesondere über Ehefrauen waren bei den betont männlichen monatlichen Zusammenkünften der absichtlich so genannten > Schwarzen Witwen< verpönt, aber Gewohnheiten sind zählebig. Mario Gonzalo, der eine Skizze des Gastes der Zusammenkunft anfertigte, sagte: »In deiner Mini-Wohnung?«
»Es ist eine tadellose Wohnung«, sagte Rubin empört, »sie wirkt nur klein. Und sie würde nicht so klein wirken, wenn Jane sie nicht mit Stieren aus Holz, Porzellan, Keramik, Bronze und Filz vollstopfte. Sie hat welche von zwei bis zu dreißig Zentimeter Länge, an der Wand, auf den Regalen, auf dem Fußboden und von der Decke hängend ...«
Avalon sagte, wobei er langsam seinen Drink im Glas drehte: »Ich nehme an, sie braucht Symbole von Männlichkeit.«
»Wenn sie mich hat?« sagte Rubin.
»Weil sie dich hat«, sagte Gonzalo und nahm den Drink, den ihm der unersetzliche Dauerkellner der Schwarzen Witwer, Henry, aufdrängte - dann eilte er zu seinem Platz, um Rubins explosiver Antwort auszuweichen.
Thomas Trumbull sagte mit böse gerunzelter Stirn: »Hoffentlich haben Sie bemerkt, Henry, daß ich heute frühzeitig kam, obwohl ich nicht Gastgeber bin.«
»Ich habe es bemerkt, Mr. Trumbull«, sagte Henry mit freundlichem Lächeln.
Читать дальше