Nach Verkauf der ersten Kurzgeschichte gab es für mich natürlich kein Halten mehr. Ich schrieb eine Schwarze-Witwer-Geschichte nach der anderen, und in kaum einem Jahr hatte ich acht geschrieben und alle dem EQMM verkauft.
Meine treuen Verleger, Doubleday and Company, hatten seit der ersten Geschichte geduldig im Hintergrund gewartet, und nun bringen sie sie gesammelt unter dem Namen >Die bösen Geschichten der Schwarzen Witwer< in Buchform heraus.
Als Roger Halsted am Tag der monatlichen Zusammenkunft der Schwarzen Witwer oben auf der Treppe erschien, waren nur Avalon und Rubin anwesend. Sie begrüßten ihn freudig.
Emmanuel Rubin sagte: »So ist es dir endlich gelungen, dich soweit aufzuraffen, um mit deinen alten Freunden zusammenzukommen?« Er ging auf Halsted zu und streckte mit einem breiten Lächeln die Arme aus und den struppigen Bart vor.
»Abend, Roger«, sagte Geoffrey Avalon, von seiner steifen Höhe herablächelnd. »Nett, dich zu sehen.«
Halsted schälte sich aus dem Mantel. »Verdammt kalt draußen. Henry, bringen...«
Henry jedoch, der einzige Kellner, den die Schwarzen Witwer jemals hatten, hielt den Drink schon bereit. »Ich freue mich, Sie wieder zu sehen, Sir.«
Halsted nahm das Glas und nickte dankend.
Mario Gonzalo kam die Stufen herauf geeilt. Er war der Gastgeber an dem Abend und fragte: »Sonst noch jemand hier?«
»Keiner außer uns Alten«, sagte Avalon freundlich.
»Mein Gast ist auf dem Weg herauf. Ein wirklich interessanter Mensch. Er wird Henry gefallen, weil er niemals lügt.«
Henry zog die Brauen hoch, als er den Drink für Mario servierte.
»Erzähl mir nicht, daß du George Washington mitbringst?« sagte Halsted.
»Roger! Ein Vergnügen, dich wiederzusehen... Übrigens, Jim Drake wird heute nicht bei uns sein. Er sandte eine Karte, er muß an irgendeiner Familienfeier teilnehmen. Der Gast, den ich mitbringe, ist ein gewisser Sand - John Sand. Ich kenne ihn mehr oder minder seit Jahren. Verrückter Kerl. Ein Pferderennennarr, der nie lügt. Es ist aber auch so ziemlich seine einzige Tugend.« Und Gonzalo zwinkerte.
Avalon nickte ominös. »Wer das kann, hat Glück. Aber wenn man älter wird ...« »Und ich glaube, es wird ein interessanter Abend werden«, fuhr Gonzalo eilig fort, sichtlich Avalons züchtigen vertraulichen Mitteilungen ausweichend. »Ich erzählte ihm von dem Klub und daß wir die beiden letzten Male Kriminalrätsel zu lösen hatten... «
»Kriminalrätsel?« fragte Halsted mit plötzlichem Interesse.
Gonzalo sagte: »Du bist ein Klubmitglied von Rang, also dürfen wir es dir erzählen. Aber das soll Henry besorgen. Er war beide Male eine Hauptperson.«
»Henry?« Halsted blickte mit leisem Staunen über seine Schulter. »Werden Sie jetzt in unsere Dummheiten einbezogen?«
»Ich versichere Ihnen, Mr. Halsted, daß ich dem auszuweichen versuchte«, sagte Henry.
»Auszuweichen versuchte!« sagte Rubin hitzig. »Hör mal, bei dem letzten Abend war Henry der Sherlock Holmes. Er...«
»Die Sache ist die«, sagte Avalon, »daß du vielleicht zu viel geredet hast, Mario. Was hast du deinem Freund über uns erzählt?«
»Wieso - zu viel geredet? Ich bin doch nicht Manny! Ich sagte Sand ausdrücklich, ich könnte ihm keine Einzelheiten angeben, denn wir sind alle nur Priester im Beichtstuhl, insoweit es diesen Raum angeht; und er sagte, er wäre gern ein Mitglied, er habe eine Schwierigkeit, die ihn rasend mache, und ich sagte, er könne das nächstemal mitkommen, denn ich bin an der Reihe als Gastgeber, und er könne mein Gast sein - hier ist er!«
Ein schlanker Mann mit einem dicken Schal um den Hals kam die Treppe heraufgestiegen. Seine schlanke Figur wurde noch auffallender, als er den Mantel ablegte. Unter dem Schal trug er einen blutroten Schlips, der seinem mageren, bleichen Gesicht Farbe verlieh. Er schien etwas über dreißig Jahre alt.
»John Sand«, sagte Mario und stellte ihn rundum vor, dann wurde er durch Thomas Trumbulls schweren Schritt auf der Treppe unterbrochen und durch den lauten Ruf: »Henry, einen Scotch mit Soda für einen Sterbenden!«
Rubin sagte: »Tom, du könntest früh kommen, wenn du dich entspanntest und deine heftigen Bemühungen, zu spät zu kommen, aufgäbest.«
»Je später ich komme«, sagte Trumbull, »desto kürzer muß ich mir deine blöden Bemerkungen anhören. Denkst du daran?« Dann wurde auch er dem Gast vorgestellt, und alle nahmen Platz.
Da das Menü für dieses Treffen unbedachtsamerweise mit Artischocken begann, erging sich Rubin in einen Vortrag über die Zubereitung der einzig dafür geeigneten Sauce. Als Trumbull dann angewidert erklärte, daß zu der einzig entsprechenden Saucenzubereitung für Artischocken eine große Mülltonne gehöre, sagte Rubin: »Gewiß, wenn du nicht die richtige Sauce hast...»
Sand aß unbehaglich und ließ zumindest ein Drittel eines ausgezeichneten Steaks unberührt. Halsted, der zu Beleibtheit neigte, beäugte neidisch die Überreste. Sein Teller war als erster leer; nur ein nackter Knochen und etwas Fett blieben übrig.
Sand schien Halsteds Blick zu bemerken und sagte ihm: »Offen gestanden verderben mir Sorgen den Appetit. Hätten Sie Lust, diesen Rest zu essen?«
»Ich? Nein, danke«, sagte Halsted verdrießlich.
Sand lächelte. »Darf ich aufrichtig sein?«
»Natürlich. Wenn Sie die Gespräche an diesem Tisch angehört haben, ist Ihnen doch klar, daß Aufrichtigkeit für diesen Abend an der Tagesordnung ist.«
»Gut, denn ich wäre es auch ohnedies. Es ist mein - Steckenpferd. Sie lügen, Mr. Halsted. Natürlich wollen Sie den Rest meines Steaks und würden ihn auch essen, wenn Sie annähmen, daß es keiner merkt. Das ist völlig klar. Doch die gesellschaftliche
Konvention verlangt, daß Sie lügen. Sie wollen nicht gierig erscheinen und wollen nicht die Hygienegrundlagen ignorieren, indem Sie etwas essen, das durch den Speichel eines Fremden verunreinigt ist.«
Halsted runzelte die Stirn. »Und wenn es umgekehrt wäre?«
»Und ich Appetit auf mehr Steak hätte?«
»Ja.«
»Nun, vielleicht würde ich Ihr Steak aus hygienischen Gründen nicht essen, aber ich würde zugeben, daß ich es wollte. Fast alles Lügen ist ein Ergebnis des Wunsches nach Selbstschutz oder geschieht aus Respekt für gesellschaftliche Konventionen. Mir erscheint jedoch eine Lüge selten als nützliche Verteidigung, und gesellschaftliche Konventionen interessieren mich gar nicht.«
Rubin sagte: »Tatsächlich ist eine Lüge eine wirksame Verteidigung, wenn sie kompromißlos ist. Der Fehler der meisten Lügen liegt darin, daß sie nicht gründlich genug durchgehalten werden.«
Henry brachte den Rumkuchen und goß vorsichtig Kaffee ein, dann sagte Avalon: »Kommen wir nun zu unserem geehrten Gast.«
Gonzalo sagte: »Als Gastgeber und Vorsitzender dieser Sitzung werde ich das Kreuzverhör abblasen. Unser Gast hat ein Problem, und ich ersuche ihn, es uns vorzutragen.« Er zeichnete eine schnelle Karikatur Sands auf die Rückseite der Speisekarte, die ein mageres, trauriges, zum Antlitz eines Bluthundes verzerrtes Gesicht zeigte.
Sand räusperte sich. »Soviel ich weiß, wird alles, was in diesem Raum gesagt wird, vertraulich behandelt, aber... «
Trumbull folgte seinem Blick und brummte: »Keine Sorge wegen Henry. Er ist der beste von uns allen. Wenn Sie an der Diskretion irgendeines von uns zweifeln wollen, zweifeln Sie an einem anderen!«
»Danke, Sir«, murmelte Henry, indem er die Cognacgläser auf die Anrichte stellte.
Sand sagte: »Das Schlimme ist, meine Herren, daß ich eines Verbrechens verdächtigt werde.«
»Welcher Art von Verbrechen?« fragte Trumbull sofort. Gewöhnlich war es seine Aufgabe, die Gäste zu befragen, und sein Blick verriet, daß er nicht die Absicht hatte, sich das Verhör entgehen zu lassen.
Читать дальше