Als Andreas sich zu ihr umdrehte, sagte er leise: »Sie ist wirklich eine Tatrix.«
Linna stand auf und begann ebenfalls beim Bedienen zu helfen. Als Kron der Tänzerinnen überdrüssig wurde, klatschte er zweimal in die Hände, und mit leisem Glockenklimpern flohen sie aus dem Raum. Kron hob eine Schale mit Kal-da und sah mich an. »Andreas sagte mir, du wolltest in das Sardargebirge ziehen«, sagte er. »Wie ich sehe, hast du das nicht getan.«
Er meinte, das ich jetzt nicht hier wäre, wenn ich die Berge tatsächlich betreten hätte.
»Ich werde noch gehen«, sagte ich, »aber zuerst habe ich etwas in Tharna zu erledigen.«
»Gut«, sagte Kron. »Wir brauchen dein Schwert.«
»Ich bin gekommen, um Lara wieder auf den Thron zu setzen«, sagte ich.
Kron und Andreas starrten mich verblüfft an.
»Nein«, sagte Kron. »Ich weiß nicht, wie sie dich verhext hat, aber wir lassen nicht zu, daß Tharna noch einmal eine Tatrix bekommt.« »Sie ist das Symbol dessen, was wir bekämpfen!« wandte Andreas ein. »Wenn sie wieder den Thron besteigt, haben wir unseren Kampf verloren. In Tarna hatte sich nicht das geringste geändert.« »In Tharna hat sich schon viel geändert«, sagte ich.
Andreas schüttelte den Kopf, als versuchte er mich zu verstehen. »Wie können wir von ihm erwarten, daß er sich vernünftig äußert«, wandte er sich an Kron. »Schließlich ist er kein Dichter.«
Kron lachte nicht.
»Und auch kein Metallarbeiter«, fügte Andreas hoffnungsvoll hinzu. Noch immer blieb Kron ernst.
Seine Persönlichkeit, die sich über den Ambossen und Blasebalgen seines Berufes gebildet hatte, kam nicht so leicht über die Worte hinweg, die ich eben gesagt hatte.
»Du müßtest mich erst umbringen«, sagte Kron.
»Gehören wir nicht noch derselben Kette an?« fragte ich.
Kron schwieg. Dann sahen mich seine stahlblauen Augen an, und er sagte: »Wir gehören immer derselben Kette an.« »Dann laß mich sprechen«, sagte ich. Kron nickte kurz.
Mehrere andere Männer drängten sich nun um unseren Tisch. »Ihr seid Männer aus Tarna«, sagte ich. »Aber die Männer, die ihr bekämpft, sind ebenfalls aus dieser Stadt.«
Einer der Männer sagte: »Ich habe einen Bruder bei den Gardisten.« »Ist es recht, daß die Männer Tharnas gegeneinander die Waffen erheben, Männer innerhalb derselben Mauern?«
»Es ist traurig«, sagte Kron, »aber nicht zu umgehen.« »Es brauchte nicht so zu sein«, wandte ich ein. »Die Soldaten und Wächter Tharnas haben einen Schwur gegenüber der Tatrix geleistet, aber die Tatrix, die sie verteidigen, ist eine Verräterin. Die wahre Tatrix von Tharna, Lara persönlich, befindet sich in diesem Raum.«
Kron beobachtete das Mädchen, das von der Diskussion noch nichts mitbekommen hatte. Auf der anderen Seite des Raumes schüttete sie Kal-da in hochgereckte Trinkschalen.
»Solange sie lebt«, sagte Kron, »ist die Revolution nicht gewonnenen.« »Das ist nicht wahr«, sagte ich. »Sie muß sterben«, sagte Kron. »Nein«, sagte ich. »Auch sie hat die Kette und die Peitsche zu spüren bekommen.« Erstaunte Ausrufe wurden laut.
»Die Soldaten Tharnas werden die falsche Herrscherin verlassen, um der wahren Tatrix zu dienen«, fuhr ich fort.
»Wenn sie es überlebt«, sagte Kron und musterte das unschuldige Mädchen auf der anderen Seite des Raumes.
»Sie muß«, sagte ich nachdrücklich. »Sie wird neues Licht nach Tharna tragen. Sie allein kann die Rebellen und die Soldaten vereinigen. Sie hat nun selbst erfahren müssen, wie grausam das alte Tharna war. Schaut sie doch an!«
Und die Männer beobachteten das Mädchen, das mit ruhigen Bewegungen Kal-da ausschenkte, das freiwillig die Arbeit der anderen Frauen Tharnas teilte. Das war kein Verhalten, wie man es von einer Tatrix gewohnt war.
»Sie ist des Thrones würdig«, sagte ich.
»Sie ist ein Symbol für das, was wir bekämpft haben«, sagte Kron. »Nein«, sagte ich, »ihr habt gegen die grausamen Traditionen Tharnas gekämpft. Ihr habt um euren Stolz und eure Freiheit gerungen, euer Feldzug ging nicht gegen dieses Mädchen.«
»Wir haben gegen die goldene Maske Tharnas gekämpft!« brüllte Kron und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Der plötzliche Lärm erregte die Aufmerksamkeit aller, und zahlreiche Augen richteten sich auf uns. Lara setzte den Kal-da-Krug ab und kam herüber.
»Ich trage die goldene Maske nicht mehr«, sagte sie zu Kron. Und Kron blickte das schöne Mädchen an, das da würdevoll vor ihm stand, ohne Stolz oder Grausamkeit oder Angst erkennen zu lassen. »Meine Tatrix«, flüsterte er.
Wir marschierten durch die Stadt; die Straßen hinter uns waren mit dem grauen Strom der Rebellen angefüllt. Jeder trug seine eigene Waffe. Doch der Lärm, der zwischen den Hausern widerhallte, war alles andere als grau und düster. Die Melodie des Pflugliedes tönte auf, langsam und unwiderstehlich, eine einfache melodische Hymne auf den Erdboden, zur Feier des ersten Pflügens im neuen Jahr.
An der Spitze der gewaltigen Prozession marschierten fünf Gestalten: Kron, Anführer der Rebellen, Andreas, ein Dichter, seine Frau Linna aus Tharna, ich, Krieger aus einer verwüsteten und verfluchten Stadt, und ein Mädchen mit goldenem Haar, ein Mädchen ohne Maske, das die Peitsche und die Liebe kennengelernt hatte, die furchtlose Lara, die wahre Tatrix von Tharna.
Es mußte den Verteidigern des Palastes, der die Hauptbastion des gefährdeten Regimes war, inzwischen klargeworden sein, daß die Entscheidung noch an diesem Tage fallen würde — durch das Schwert. Die Gerüchte waren uns wie auf Tarnflügeln vorausgeeilt daß die Rebellen ihre versteckte Taktik aufgaben und nun endlich vor den Palast marschierten.
Wieder sah ich vor uns die breite, gewundene, schmaler werdende Straße, die zum Palast der Tatrix führte. Singend begannen die Rebellen dem steilen Weg zu folgen. Die schwarzen Pflastersteine waren durch die dünnen Ledersohlen unserer Sandalen deutlich zu spüren.
Und wieder sah ich die Wände links und rechts der Straße ansteigen, doch diesmal erblickten wir ein gutes Stuck vor der schmalen Eisentür eine doppelte Barrikade quer über der Straße, wobei der zweite Sperrwall den ersten überragte. Die Kämpfer, die den ersten Wall einzureißen versuchten, konnten also von weiter hinten mit Pfeilen überschüttet werden. Die beiden Walle waren etwa fünfzig Meter voneinander entfernt; der erste mochte vier Meter hoch sein, der zweite sechs Meter.
Hinter den Sperren sah ich Waffen aufblitzen, außerdem waren die Bewegungen blauer Helme auszumachen.
Wir waren auf Armbrustschußweite heran.
Ich gab den anderen ein Zeichen zurückzubleiben, und mit Schild, Speer und Schwert bewaffnet, näherte ich mich der ersten Barrikade. Auf dem Palastdach hinter dem Doppelwall machte ich von Zeit zu Zeit die Köpfe von Tarns aus und hörte ihre Schreie. Doch diese Tiere waren gegen die Rebellen in der Stadt kaum einzusetzen. Viele Revolutionäre hatten sich große Bogen zurechtgemacht, andere waren mit den Speeren und Armbrüsten gefallener Soldaten bewaffnet. Es war für einen Tarnkämpfer nicht ungefährlich, sich auf Kampfweite an die Rebellenhaufen heranzuwagen.
Und hätten die Krieger den Versuch gemacht, vom Tarnrücken die Straßen zu beschießen, wären die Revolutionäre in Deckung gegangen, bis der Schatten des Vogels verschwunden war und sie weitere hundert Meter an den Palast heranrücken konnten.
Etwa hundert Schritt vor dem Wall legte ich Schild und Speer zu meinen Füßen nieder und gab damit das Zeichen für einen vorübergehenden Waffenstillstand.
Eine große Gestalt erschien daraufhin auf der Barrikade und machte es mir nach.
Obwohl er den blauen tharnaischen Helm trug, erkannte ich Thorn sofort. Ich setzte mich wieder in Bewegung.
Der Weg kam mir sehr lang vor.
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