Wir ließen den Tarn in der Nähe des Tores auf der Mauer landen. Ich gab dem Vogel zu fressen. Es gab keinen Tarnkäfig in der Nähe, in dem ich ihn hätte unterstellen Können, doch ich hätte ihn den Tarnzüchtern der Stadt auch ungern überlassen. Keiner wußte, wer zu den Rebellen zählte und wer nicht. Vielleicht wollte ich überhaupt, daß der Vogel frei wäre, falls sich meine Hoffnungen nicht erfüllten, falls Lara und ich in einer der Gassen Tharnas umkommen sollten.
Auf der Mauerkrone lag ein Wächter, der sich schwach bewegte. Er stieß einen leisen Schmerzensschrei aus. Offensichtlich war er nach einem Kampf für tot gehalten worden und kam nun langsam wieder zu Bewußtsein. Seine graue Tunika mit dem roten Kastenstreifen war blutverschmiert. Ich öffnete seinen Helmriemen und zog ihm vorsichtig den Helm vom Kopf.
An einer Seite war der Helm aufgesprungen, Vielleicht durch einen Axthieb. Die Helmgurte, die Lederfütterung und das blonde Haar des Soldaten waren voller Blut. Er war noch sehr jung.
»Bleib ruhig liegen«, sagte ich zu ihm und untersuchte seine Wunde. Der Helm hatte den Schlag abgefangen, aber die Klinge der Waffe hatte die Haut aufplatzen lassen, und die Wunde hatte sehr geblutet.
Wahrscheinlich war er durch die Wucht des Schlages ohnmächtig geworden, und das Blut hatte den Angreifer überzeugt, das hier nichts mehr zu machen war, Mit einem Streifen Stoff von Laras Umhang verband ich die Wunde. Sie war sauber und nicht sehr breit.
»Es wird alles gut«, sagte ich.
Seine Augen musterten uns. »Seid ihr Für die Tatrix?« fragte er. »Ja«, sagte ich.
»Ich habe für sie gekämpft«, sagte der Junge in meinem Arm. »Ich habe meine Pflicht getan.«
Ich erriet, daß er an dieser Pflicht keinen Spaß gehabt hatte, daß er innerlich vielleicht sogar auf der Seite der Rebellen stand, doch sein Kastenstolz hatte ihn auf seinem Posten nicht wanken lassen. Obwohl er noch jung war, kannte er schon die blinde Loyalität eines Kriegers, eine Loyalität, die ich respektierte, die sich vielleicht kaum von den Treuegefühlen unterschied, die ich selbst schon empfunden hatte. Solche Männer waren schreckliche Feinde, mochten ihre Schwerter auch der verabscheuungswürdigsten Sache verschworen sein.
»Du hast nicht für deine Tatrix gekämpft«, sagte ich leise.
Der junge Krieger fuhr zusammen. »Aber doch!« rief er.
»Nein«, sagte ich. »Du hast für Dorna die Stolze gekämpft, die sich Tharnas Thron unrechtmäßig angeeignet hat — eine Betrügerin, eine Verräterin.«
Der junge Mann riß die Augen auf und starrte uns an.
»Hier«, sagte ich und deutete auf das schöne Mädchen neben mir. »Das ist Lara, die wirkliche Tatrix von Tharna.«
»Ja, mutiger Soldat«, sagte das Mädchen und legte ihre Hand auf die Stirn des Mannes, als wollte sie ihn beruhigen. »Ich bin Lara.« Der Wächter rührte sich in meinen Armen, fiel zurück und schloß mit schmerzverzogenem Gesicht die Augen.
»Lara«, sagte er mit geschlossenen Lidern, »wurde von einem Tarnkämpfer aus der Arena der Schauspiele entführt.«
»Ich bin der Mann«, sagte ich.
Die graublauen Augen öffneten sich langsam und starrten mir lange Zeit prüfend ins Gesicht. Langsam stahl sich ein Ausdruck des Erkennens auf sein Gesicht. »Ja«, sagte er. »Ich erkenne dich!«
»Der Tarnkämpfer«, sagte Lara leise, »brachte mich zur Verhandlungssäule. Dort wurde ich von Dorna der Stolzen und ihrem Komplizen Thorn gefangengenommen und einem Sklavenhändler verkauft. Der Tarnkämpfer hat mich befreit und bringt mich nun zu meinem Volk zurück.«
»Ich habe für Dorna die Stolze gekämpft«, sagte der Junge. In seinen Augen standen Tränen. »Verzeih mir, wahre Tatrix von Tharna.« Und wäre es nicht verboten gewesen, daß er, ein Mann, eine Frau Tharnas berührte, hatte er jetzt bestimmt die Hand ausgestreckt.
Zu seiner Verblüffung nahm Lara seine Hand. »Du hast mutig gehandelt«, sagte sie. »Ich bin stolz auf dich.«
Der Junge schloß die Augen und entspannte sich in meinem Arm. Lara schaute mich angstvoll an.
»Nein«, sagte ich, »er ist nicht tot. Er ist nur jung und hat viel Blut verloren.«
»Schau!« rief das Mädchen und zeigte auf der Mauer entlang.
Sechs Gestalten mit Speeren und Schildern kamen hastig näher. »Wächter«, sagte ich und zog meine Klinge.
Plötzlich sah ich die Bewegung der Schilde, die sich schräg zurücklegten, sah, wie die rechten Arme hochkamen, wie die Speerspitzen zuckten, ohne daß die Männer innehielten. Gleich mußten die sechs Speere in unsere Richtung fliegen.
Ohne Zögern steckte ich mein Schwert wieder in den Gürtel und ergriff Lara um die Hüfte. Ich zerrte sie mit und wandte mich zur Flucht. »Warte!« sagte sie atemlos. »Ich will mit ihnen sprechen!«
Ich nahm sie in die Arme und lief weiter.
Kaum hatten wir die steinerne Wendeltreppe erreicht, die von der Mauer hinabführte, als sechs Speerspitzen über unseren Köpfen gegen den Stein klirrten.
Als wir die Straße erreicht hatten, hielten wir uns dicht an der Mauer, um weiteren Speeren kein Ziel zu bieten. Andererseits glaubte ich nicht, daß die Männer von dort oben auf uns zielen würden; wenn sie uns nicht trafen, mußten sie von der Mauer steigen, um die Waffen wieder an sich zu bringen. Außerdem waren zwei Rebellen nicht weiter wichtig. Langsam arbeiteten wir uns durch die finsteren, blutigen Straßen der Stadt. Einige Gebäude waren vernichtet. Läden waren zugenagelt. Überall häufte sich der Unrat, der zum Teil in den Gossen verbrannte. Die Straßen waren verlassen bis auf einen Toten hier und dort. An vielen Wänden und Mauern standen die Worte: ›Sa’ng-Fori‹.
Von Zeit zu Zeit musterten uns entsetzte Augen aus Fensterspalten. Ich vermutete, daß es in ganz Tharna keine Tür gab, die an diesem Tage nicht verriegelt war.
»Halt!« rief eine Stimme, und wir blieben stehen.
Vor und hinter uns tauchten Männer auf. Mehrere hielten Armbrüste, mindestens vier Speere waren auf uns gerichtet, einige trugen Schwerter, doch viele hatten nur eine Kette oder einen angespitzten Pflock als Waffe.
»Rebellen!« sagte Lara.
»Ja«, sagte ich.
Wir sahen den trotzigen Ausdruck auf den Gesichtern, die Entschlossenheit, die Mordlust in den Augen, die vor Schlaflosigkeit rot unterlaufen waren, die verzweifelte Haltung der graugekleideten Körper, die von den Straßenkämpfen ausgezehrt waren.
Langsam zog ich mein Schwert und schob das Mädchen neben mich gegen eine Mauer.
Einer der Männer lachte.
Auch ich lächelte, denn Widerstand war sinnlos, doch wußte ich, daß ich mich wehren würde, daß ich eher sterben wollte, als mich zu ergeben. Und Lara?
Was würden die aufgebrachten, verrohten Männer mit ihr machen? Ich musterte meine zerlumpten Gegner, von denen einige verwundet waren. Sie waren verdreckt, wild, erschöpft, wütend, litten womöglich Hunger. Wahrscheinlich würde man Lara auf der Stelle umbringen, brutal, aber barmherzig, weil es schnell vorüber wäre.
Die Speere richteten sich auf uns, Armbrüste wurden angelegt. Ketten rasselten; die wenigen Schwerter erhoben sich zum Schlag. »Tarl aus Ko-ro-ba!« rief da eine Stimme, und ich erblickte einen dünnen Mann mit kurzgeschorenem blondem Haar, der sich durch die Truppe drängte.
Er war der Mann, der in unserer Kettengemeinschaft in den Bergwerken der erste gewesen war, der durch den Wasserschacht hatte steigen müssen.
Auf seinem Gesicht leuchtete die Freude, und er umarmte mich. »Das ist er!« rief er. »Tarl aus Ko-ro-ba!«
Daraufhin rissen zu meiner Verblüffung die Rebellen ihre Waffen hoch und stießen einen wilden Freudenschrei aus. Ich wurde von den Füßen geworfen und auf ihre Schultern gehoben. So trug man mich durch die Straßen, und andere Rebellen, die aus Türen und durch Fenster kamen, die sogar aus den Pflasterritzen der Straßen zu kommen schienen, schlossen sich uns an, bildeten eine Art Triumphzug.
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