Es geschah zum erstenmal, daß ich Grunt ohne den vertrauten breitkrempigen Hut vor mir sah.
»Es war vor fünf Jahren«, sagte er. »Gelbmesser taten mir das an. Ich war bewußtlos geschlagen worden. Sie hielten mich für tot. Ich erwachte später und überlebte.«
»Ich habe von solchen Fällen gehört«, sagte ich.
»Scheußlich sieht es aus«, meinte er.
»Ein Teil der Haut ist nachgewachsen«, stellte ich fest. An anderen war nur Narbengewebe auszumachen, hier und dort lag auch der Knochen frei.
»Mir wurde noch mehr angetan«, sagte Grunt verbittert.
»Ein Glück für dich, daß du nicht verblutet bist«, sagte ich.
»Ach wirklich?« fragte Grunt zurück.
»Ja.«
»Vielleicht hast du recht.«
»Ist dein wahrer Zustand vielen bekannt?« wollte ich wissen.
»Du wußtest es nicht«, erwiderte Grunt. »Es ist aber nicht allgemein unbekannt.«
»Ich verstehe.«
»Wasnapohdi hatte keine Ahnung«, fuhr er fort. »Als sie es zum erstenmal sah, übergab sie sich ins Gras.«
»Sie ist nur Sklavin«, sagte ich.
»Wunderst du dich jetzt noch«, fragte er, »warum Grunt immer wieder in das Ödland strebt, warum er so wenig Zeit bei seinem eigenen Volk verbringt?«
»Es dauert nicht mehr lange, dann ist das Lager verloren«, sagte ich. »Ich würde vorschlagen, daß ihr alle um euer Leben reitet!«
»Ich ziehe das Ödland vor«, sagte Grunt zornig. »Im Ödland hat man stärkere Mägen!«
»Reiter!« rief Cuwignaka. »Und Kaiila!«
Wir fuhren herum.
»Kaiila-Krieger!« rief Cuwignaka.
Fünf Krieger von den Napoktan-Kaiila verhielten ihre Tiere in unserer Nähe; jeder von ihnen führte an Zügeln etliche Kaiila hinter sich.
»Die Frauen und Kinder«, sagte Cuwignaka und wies den Reitern den Weg, »findet ihr in dieser Richtung.«
»Wasnapohdi!« rief einer der Krieger in diesem Augenblick. »Bist du es?«
Wasnapohdi schien sich nicht anders helfen zu können als haltlos auf die Knie zu sinken. Sie blickte empor, und ihre Unterlippe zitterte, und ihre Augen waren voller Tränen. »Ja, Herr!« sagte sie.
»Beeilung!« rief der Anführer der Krieger, die in die Richtung davongaloppierten, die Cuwignaka ihnen gewiesen hatte.
Nicht entgangen war mir die Art und Weise, wie Wasnapohdi zu dem jungen Mann »Herr« gesagt hatte – nicht als allgemeine Anrede, sondern mit einer besonderen Betonung.
»Das war Waiyeyeca«, sagte ich zu ihr.
»Ja, Herr«, antwortete sie, und ihre Augen funkelten vor Tränen. Plötzlich verstand ich, warum sie sich im Lager vor ihm versteckt hatte. Sie hatte Angst vor ihren Gefühlen. Für mich gab es in diesem Moment keinen Zweifel – wohl ebensowenig wie für sie –, daß sie diesen Mann wirklich liebte. Ihre Augen, ihre Stimme verrieten, daß sie sich im Herzen noch immer als seine Sklavin sah.
Auch Grunt war diese Tatsache nicht verborgen geblieben.
Wasnapohdi richtete sich auf und schaute hinter den Reitern her. Sie streckte die Hand aus.
»Laß mich ihm folgen, Herr«, sagte sie zu Grunt. »Bitte!«
»Habe ich dir erlaubt aufzustehen, Sklavin?« fragte Grunt.
Erstaunt blickte sie ihn an. Grunt versetzte ihr eine Ohrfeige, und ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Ungläubiges. »Du gehörst nicht ihm«, sagte Grunt barsch. »Sondern mir!«
»Ja, Herr«, sagte sie. Mit ganzem Herzen sehnte sie sich danach, Waiyeyeca zu folgen, doch sie mußte Grunt begleiten, der jetzt auf seine Kaiila gestiegen war. Ihr Wille bedeutete nichts. Sie war Sklavin.
»Ich war viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt«, sagte Grunt. »Manchmal lasse ich die Dinge zu dicht an mich herankommen. Ich danke euch beiden, meine Freunde, daß ihr mich zur Vernunft gebracht habt.«
»Reite«, sagte Cuwignaka. »Es ist beinahe dunkel. Hoffentlich können viele reitend oder zu Fuß aus dem Lager fliehen.«
»Du begleitest uns doch sicher«, sagte Grunt.
»Nein«, gab Cuwignaka zurück.
»Kämpfen ist Sache von Kriegern«, sagte Grunt.
»Wir sind Krieger«, erwiderte Cuwignaka.
»Ich wünsche dir alles Gute«, sagte Grunt.
»Wir dir auch«, sagte ich.
»Oglu waste!« sagte Cuwignaka.
»Oglu waste!« gab Grunt zurück. »Viel Glück!«
Und er ritt seine Kaiila durch das Zwielicht. Wir sahen, wie Wasnapohdi einen gepeinigten Blick in die Richtung warf, in die Waiyeyeca geritten war. Dann eilte sie neben Grunts Kaiila.
»Er ist der einzige Mann in meiner Bekanntschaft, der das überlebt hat«, sagte Cuwignaka.
»Für sich gesehen ist es nicht tödlich«, sagte ich. »Nur wird es im allgemeinen an Sterbenden oder Toten vollzogen.«
»Du hast natürlich recht«, sagte Cuwignaka.
»Grunt schien in diesem Punkt ziemlich empfindlich zu sein«, sagte ich.
»Es hat ihm heute das Leben gerettet«, meinte Cuwignaka. »Eher sollte er sich darüber freuen.«
»Vermutlich kann man sich daran gewöhnen«, meinte ich.
»Scheußlich sieht es aus.«
»O ja, bereitwillige Nachahmer wird es nicht geben.«
»Gewiß nicht!« sagte Cuwignaka lachend.
»Er ist ein guter Mann«, meinte ich.
»Ja, und sehr freundlich.«
»Ja.«
»Ich frage mich, ob Wasnapohdi jemals begreift, wie besorgt Grunt um ihr Leben war.«
»Irgendwann wird sie es sicher erkennen«, sagte ich. »Sie ist eine intelligente Frau.«
»Mahpiyasapa weiß, daß das Lager verloren ist«, stellte Cuwignaka fest.
»Ja«, erwiderte ich. »Die jungen Krieger brachten Kaiila für die Evakuierung von Frauen und Kindern.«
»Meinst du, es werden genug Kaiila zusammenkommen?«
»Keine Ahnung«, entgegnete ich.
»Die Tiere werden nicht reichen«, behauptete Cuwignaka.
Hauend und stechend kämpften wir eine Gruppe von Soldaten nieder.
»Kaiila! Freunde!« schrie ich mit erhobener Lanze.
»Tatankasa! Cuwignaka!« rief ein Mann.
Das dünne, unregelmäßige, ausgedünnte Oval an Kriegern, etwa hundert Meter lang, öffnete sich und ließ uns ein. Im Innenkreis drängten sich Frauen und Kinder und Kaiila.
Mahpiyasapa und seinen Leutnants war es mit der Hilfe von gebrüllten Befehlen und Signalen ihrer Kriegsstäbe und Pfeifen gelungen, eine neue Kampflinie zu bilden und einen Abwehrkreis zu formen.
Wir zogen unsere Kaiila herum und ließen uns in die Formation eingliedern.
Zwischen uns landeten Pfeile hochfliegender Kinyanpi.
Hier und dort stellten Gelbmesser und Soldaten in kurzen, heftigen Scharmützeln unsere Verteidigungskraft auf die Probe.
»Niemand flieht, ehe Mahpiyasapa das Zeichen gibt!« rief ein Mann.
»Wir müssen durchhalten, bis es dunkel wird«, bemerkte ein anderer.
»Und dann müssen wir, die Frauen und Kinder abschirmend, durch die gegnerischen Linien brechen, soweit das möglich ist.«
»Es wird eine bedeckte Nacht«, meinte jemand. »Die Kinyanpi werden uns kaum folgen können.«
»Bald ist es dunkel«, sagte eine Stimme hoffnungsvoll.
Hci lenkte seine Kaiila aus der Kampflinie und verhielt sie neben Cuwignakas Tier.
»Ich hatte nicht geglaubt, daß du zurückkommen würdest«, sagte er.
»Ich bin ein Kaiila«, antwortete Cuwignaka.
Hci kehrte an seinen Posten zurück.
»Ich glaube, wir können die Stellung bis zur Nacht halten«, sagte ich zu Cuwignaka.
»Ich bin deiner Meinung. Wenn nicht, gibt es hier ein Blutbad.«
Plötzlich hörten wir das Klappern von Rasseln und das Dröhnen kleiner Handtrommeln. Die Gelbmesser öffneten ihre Linien. Die Soldaten zogen sich ebenfalls ein Stück zurück. In dem nun gebildeten Korridor erschienen Tänzer: Ihre Körper waren bemalt, sie hatten sich Zweige um Hand- und Fußgelenke gebunden. Sie sangen, stampften, drehten sich schlurfend im Kreis.
»Gelbmesser«, sagte ein Mann angstvoll.
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