Neun Tage vergingen, und ich war von Hunger und Durst so geschwächt, daß ich mich kaum mehr bewegen konnte, wenn ich auch nicht mehr litt. Darüber war ich nun schon hinaus. Und da war es, daß ein kleines Päckchen durch die Dunkelheit zu mir herunter fiel. Gleichgültig griff ich danach und hielt es für ein neues Foltergerät, das sich meine Peiniger ausgedacht hatten.
Es war ein in Papier gewickeltes Päckchen am Ende einer langen, dünnen, sehr kräftigen Schnur. Ich öffnete es, und da fielen mir etliche Pastillen entgegen. Ich nahm sie zwischen die Finger, roch daran und entdeckte, daß sie ein Nahrungskonzentrat waren, das es in allen Ländern auf Barsoom gibt.
Erst dachte ich an Gift.
Na, und? Würde es nicht meinen Leiden ein endgültiges Ende setzen? Welchen Sinn hatte es, noch weitere Tage in dieser Foltergrube zu verbringen? Aber dann nahm ich doch eine der Tabletten zwischen die Lippen. In welcher Absicht? In welcher Hoffnung?
»Leb wohl, meine Dejah Thoris«, flüsterte ich schwach. »Ich habe für dich gelebt und gekämpft, und nun wird mir einer meiner sehnlichsten Wünsche erfüllt – ich sterbe für dich.« Und damit zerbiß ich die Tablette und verschluckte die Krümel.
Ich aß sie alle, und nichts im Leben hatte je besser geschmeckt als diese kleinen Tabletten, die doch wahrscheinlich mit einem Gift versetzt waren, das mir einen langsamen, schrecklichen Tod bereiten würde.
Ruhig auf dem Boden meines Gefängnisses sitzend erwartete ich mein Ende. Da berührten meine Finger ganz zufällig das Papier, in welches das Päckchen eingewickelt war, und ich spielte damit. Mein Geist schweifte in die Vergangenheit zurück, um wenigstens in Gedanken die glücklichsten Momente meines Lebens noch einmal erleben zu können. Aber da wurde ich auf einmal einiger Erhöhungen gewahr, die sich deutlich von dem kräftigen, pergamentähnlichen Papier abhoben.
Im Moment bedeuteten sie mir noch nichts, und ich wunderte mich nur darüber. Allmählich nahmen sie jedoch Form an, und dann fiel es mir wie Schuppen vor den Augen. Es war eine Zeile, die sich wie eine Schrift anfühlte!
Jetzt war ich mit einem Schlag äußerst interessiert und hell wach. Meine Finger tasteten erst langsam, dann immer erregter die Erhöhungen ab und zogen die Umrisse nach.
Doch ich konnte keinen Sinn dahinter finden. Vielleicht war ich in meiner Erregung zu hastig gewesen? Deshalb versuchte ich es erneut, diesmal betont langsam. Immer wieder tasteten meine Finger von einem Punkt zum anderen.
Die Marsschrift kann einem Erdenmenschen schlecht erklärt werden. Sie ist ein Mittelding zwischen Kurz- und Bilderschrift, und die darin ausgedrückte Sprache unterscheidet sich grundlegend von der gesprochenen.
Auf Barsoom gibt es nur eine einzige gesprochene Sprache. Sie wird von allen Rassen und Nationen gleichermaßen angewandt wie schon damals, als das menschliche Leben auf Barsoom seinen Anfang nahm. Je mehr sich Wissen und Wissenschaft auf diesem Planeten ausbreiteten, desto vielfältiger und reicher wurde auch die Sprache. Neue Dinge und neue Gedanken hatten auch neue Worte zur Folge, und diese neuen Worte wurden ganz logisch in allen Nationen und Rassen auf dieselbe Art geformt, da sie ja auch denselben Gegenstand betrafen. Auf diese Art war die Sprache aller Völker auf Barsoom identisch.
Die Schrift hatte eine andere Entwicklung genommen. Keine zwei Nationen bedienten sich der gleichen Schrift, und oft war sie schon von einer Stadt zu ihrer Nachbarstadt so verschieden, daß der eine Bürger die Schrift der anderen Stadt nicht zu lesen vermochte. Nach sehr langer Zeit gelang es mir dann doch, wenigstens das erste Wort zu entziffern. Es hieß ›Mut‹ und war geschrieben in der Schrift von Marentina.
Mut! Das war das Wort, das mir der Gelbe Wächter ins Ohr geflüstert hatte, als ich am Rand der Grube stand.
Also mußte die Botschaft von ihm sein, und ich wußte ja auch, daß er mein Freund war.
Voll neuer Hoffnung machte ich mich daran, auch die restlichen Schriftzeichen zu entziffern, und das gelang mir schließlich auch. Vier Worte waren es:
»Mut! Folge dem Seil.«
Was konnte das bedeuten?
Welchem Seil sollte ich folgen?
Ach ja, da war doch die Schnur, mit der das Päckchen heruntergelassen worden war! Ich tappte ein wenig herum und fand sie. Sie hing von oben herunter, und als ich daran zog, entdeckte ich, daß sie irgendwo oben festgemacht war, vielleicht am Rand der Grube. Ich probierte ein wenig herum und fand, daß die Schnur zwar dünn aber ungeheuer kräftig war und leicht das Gewicht einiger Männer aushaken konnte. Dann machte ich noch eine Entdeckung. Etwa in Kopfhöhe war eine zweite Mitteilung angeknotet, und die konnte ich nun viel schneller entziffern.
»Bring das Seil mit. Jenseits der Knoten liegt Gefahr.«
Das war alles und offensichtlich sehr eilig formuliert und ein nachträglicher Einfall.
Ich hielt mich nicht damit auf, darüber nachzudenken, und obwohl ich den Sinn des Satzes nicht begriff, ›jenseits der Knoten liegt Gefahr‹, wußte ich doch, daß das hier ein Fluchtweg war, und je eher ich von dieser Möglichkeit Gebrauch machte, desto wahrscheinlicher war es, daß ich damit die Freiheit gewinnen konnte.
Eines war sicher: Schlimmer konnte es mir nirgends ergehen als in der Grube des Überflusses.
Es dauerte jedoch nicht lange, da fand ich heraus, daß ich noch viel übler dran gewesen wäre, hätte ich zwei Minuten länger in der Grube ausharren müssen.
Ich brauchte natürlich in meinem immerhin geschwächten Zustand eine gewisse Zeit, bis ich den Rand der Grube erreichen konnte. Ich hatte etwa zwanzig Meter zurückgelegt, als ich von oben einen Lärm vernahm. Zu meinem Kummer sah ich, daß der Deckel der Grube hoch oben abgenommen wurde, und im hellen Licht des Hofes bemerkte ich eine ganze Anzahl Gelber Krieger.
War es möglich, daß ich in eine Falle gelockt wurde? Waren die Mitteilungen gefälscht oder eine Böswilligkeit?
Gerade als meine Hoffnung und mein Mut auf ihrem allertiefsten Stand angekommen waren, sah ich zweierlei:
Das eine war der Körper eines riesigen, um sich schlagenden und knurrenden Apt, der an der Grubenwand zu mir heruntergelassen wurde, und das andere war eine Öffnung in der Wand des Schachtes, eine Öffnung, in welche das Seil führte und die größer war als eines Mannes Körper.
Gerade als ich in das dunkle Loch verschwand, kam der Apt an mir vorbei und versuchte mich mit seinen mächtigen Händen festzuhalten; er schnappte, knurrte und brüllte auf die erschreckendste Art. Jetzt wußte ich, welche schauerliche Todesart mir Salensus Oll zugedacht hatte. Erst quälte er mich mit Hunger und Durst bis zur Erschöpfung, und dann veranlaßte er, daß dieses furchtbare Tier in mein Gefängnis gelassen wurde – wahrlich eine höllische Fantasie, die der Jeddak hier entwickelte.
Und dann schoß ein weiterer Gedanke wie ein Blitz durch meinen Kopf. Neun Tage hatte ich wohl in der Grube gesessen – neun Tage von den zehn, die vergehen mußten, ehe Salensus Oll meine Dejah Thoris zu seiner Königin machen konnte. Der Apt soll also vor dem zehnten Tag für meinen sicheren Tod sorgen.
Am liebsten hätte ich nun schallend gelacht über die groteske Logik von Salensus’ Tat. Er wollte absolut sicher sein, daß das von ihm angestrebte Ende auch wirklich eintrat, und wenn sie den Apt allein in der Grube fanden, mußten sie annehmen, daß er seine Pflicht getan und mich restlos aufgefressen hatte. Kein Verdacht, ich könnte doch noch entkommen sein, würde dann eine Suche nach mir auslösen. Ich wickelte das Seil auf, das mich auf dieser seltsamen Reise geleitet hatte, und suchte nach dem anderen Ende, fand es aber nicht. Nun war mir der Satz klar: ›Folge dem Seil‹.
Der Tunnel, durch den ich kroch, war eng und dunkel. Ich hatte einige hundert Meter zurückzulegen, als ich plötzlich einen Knoten unter meinen Fingern spürte. ›Jenseits der Knoten liegt Gefahr‹, so hatte der zweite Satz geheißen.
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